Finnland – unterwegs im Land der Bären (Teil 1)

Im Vergleich zu den restlichen Ländern Skandinaviens findet Finnland noch immer recht wenig Beachtung und ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Randerscheinung, und das nicht nur aufgrund seiner geografischen Lage am östlichsten Rand der Europäischen Union. Auch touristisch spielt es, ganz anders als seine direkten Nachbarn Schweden und Norwegen, für Reisende aus Deutschland eine Nebenrolle. Das sieht man auch wieder deutlich während der Corona-Pandemie. Tauchte der viel zitierte schwedische „Sonderweg“, der sich letztlich eher als Sackgasse entpuppt hat, häufig in den Nachrichten auf, wurde über Corona in Finnland sehr wenig bis gar nichts geschrieben. Obwohl der finnische Umgang mit der Herausforderung der Pandemie durchaus erwähnenswert wäre, hatte die noch junge Regierung doch sehr schnell, sehr strikt und sehr erfolgreich auf die Ausbreitung des Virus reagiert und so die Fallzahlen stets auf einem sehr niedrigen Niveau gehalten. Aber so scheint unsere Welt nicht mehr zu funktionieren. Mit reißerischen Überschriften und negativen Schlagzeilen kreiert man heutzutage mehr Klicks, und Positives droht zur Randnotiz zu verkommen. Wir wollen diesem Trend bewusst nicht folgen. Und so schätzen wir uns glücklich, dass wir über zwei Monate des Spätjahres in Finnland verbringen durften. Das war zunächst eigentlich gar nicht so geplant und wäre auch fast nicht möglich gewesen.

Ende Juli begann Ruths Sabbatjahr. Viele Monate der Planung lagen zu diesem Zeitpunkt bereits hinter uns, mehr als ein Jahr Zeit zu reisen sollte vor uns liegen. Dann kam Corona. Schon während der Vorbereitung hatten wir die Entwicklung immer sehr genau im Auge behalten und recht schnell wurde klar, dass wir die meisten der geplanten Länder nicht würden bereisen können. Die Auszeit zu verschieben kam nicht in Frage, statt dessen versuchten wir, das Beste aus der Situation zu machen. Und so rollen wir mit unserem treuen, vierrädrigen Begleiter Anfang August in Travemünde auf eine Fähre, die uns in 32 Stunden in den Hafen der finnischen Hauptstadt bringt. Die meisten Infektionen des Landes finden zu diesem Zeitpunkt rund um die größeren Städte im Süden und Westen Finnlands statt. Und da wir uns Helsinki bereits vor fünf Jahren genauer angeschaut haben, fällt es uns nicht schwer, unverzüglich in den wesentlich dünner besiedelten und ursprünglicheren Osten des Landes aufzubrechen.

 

 

Die Landschaft Mittel- und Ostfinnlands ist geprägt von riesigen Waldgebieten und einem verwirrenden Geflecht aus größeren und kleineren Gewässern, die Finnland zu seinem allseits bekannten Spitznamen „Land der tausend Seen“ verholfen haben. Eingebettet in die typische Landschaft Kareliens liegt unser erstes Ziel, der beschauliche Ort Ilomantsi. Die kleine Gemeinde ist die östlichste des Landes und befindet sich direkt an der Grenze zu Russland. Für drei Tage im August streift das kleine Städtchen seine sonst so geschätzte Ruhe ab und lockt Besucher aus dem ganzen Land und auch dem Rest der Welt an. Sie alle wollen internationalen Künstlern bei der Arbeit zuschauen, wie sie aus rund zwei Meter hohen Holzstämmen regelrechte Kunstwerke schnitzen. Auch bei uns hatte Ilomantsi bereits während unseres ersten Besuchs 2015 einen bleibenden Eindruck hinterlassen; hier waren wir auf die ersten Bären der Reise gestoßen, wenn auch nicht ganz so, wie wir das erwartet hätten.

 

 

Im ganzen Ort verteilt und entlang der Hauptstraße stehen zahlreiche hölzerne Skulpturen der Tiere. Ilomantsi hat nämlich ein Ziel: die „Stadt der tausend Bären“ möchte man sich in naher Zukunft nennen dürfen. Und daran arbeiten auch die Holzschnitzer, die sich zum alljährlichen Bärenschnitzfestival einfinden. In diesem Jahr bekommen die Veranstalter die Auswirkungen der Corona-Pandemie deutlich zu spüren. Kurz nach unserer Einreise wurden die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen und auch aus Deutschland ist die Einreise nicht mehr möglich. Und so mischen sich abgesehen von Ruth und mir nur drei Besucher von außerhalb Finnlands unter die insgesamt sehr kleine Zuschauerzahl. War der letztjährige Gewinner noch aus der Mongolei angereist, stammen auch die Künstler selbst in diesem Jahr nur aus Finnland. Das ist schade für die Veranstalter, für uns erweist es sich als Glücksfall. Ohne dichtes Gedränge haben wir Platz zum Fotografieren und kommen viel schneller in Kontakt mit den Einheimischen. Alsbald tönt ohrenbetäubender Lärm von Kettensägen aus dem kleinen Birkenwäldchen, in dem jeder der Schnitzer die Arbeit an seiner Skulptur aufgenommen hat: das Karhufestivaali ist eröffnet. Die nächsten zwei Tage wird gesägt, geklopft, gemessen und geschnitzt, was die eigene Vorstellungskraft hergibt, und so werden wir Zeugen, wie aus Holzstämmen immer feinere Details geschält werden, bis hin zu kunstvollen Bärenskulpturen, die am Ende noch mit Feuer und Farbe den letzten Schliff erhalten.

 

 

Es ist kein Zufall, dass es Bären sind, die während des Festivals geschnitzt werden. Der Braunbär ist einer der wichtigsten Charaktere der finnischen Mythologie und nimmt auch im finnischen Nationalepos, der Kalevala, eine bedeutende Rolle ein. So wurde angenommen, dass Tapio, der Gott des Waldes, von Zeit zu Zeit in Gestalt eines Bären durch sein Reich streift. Bei den alten Kulturen des Nordens wurde der Bär gefürchtet und zugleich als Totemtier verehrt und auch heute noch gilt er für viele als Bruder des Menschen. Die Kalevala ist ein wichtiger Bestandteil der finnischen Identität und bis heute nicht aus dem Schulunterricht wegzudenken. In Ilomantsi kommen wir in den Genuss, einer sogenannten Rune aus dem Nationalepos zu lauschen. Begleitet wird der Gesang vom Spiel auf der Kantele, einem aus einem Birkenstamm gefertigten Zupfinstrument. Das Lied handelt vom Erlegen eines Bären. Und als uns die Sängerin im Anschluss erzählt, dass ein gehäuteter Bär an einen sehr muskulösen Menschen erinnern würde, ahnen wir noch nicht, dass wir uns davon schon sehr bald selbst überzeugen können.

 

 

Einige Tage später folgen wir bereits für viele Kilometer einer Schotterpiste. Der Wald links und rechts des Weges liegt ruhig und dunkel im diffusen Licht des Morgengrauens. Während ich mich auf die Straße konzentriere, lässt Ruth keinen Blick vom GPS. Pünktlich finden wir uns bei den verabredeten Koordinaten ein, stellen unseren Land Rover im Wald ab, schnallen die Kamerarucksäcke auf die Rücken und warten. Die Minuten kommen uns endlos vor, wir reden kaum, jeder hängt seinen Gedanken nach. Mit gemischten Gefühlen stehen wir irgendwo in den finnischen Wäldern, haben keine rechte Vorstellung von dem, was uns erwartet. Das entfernte Geräusch eines Motors beendet unser Grübeln. Lauri springt aus dem Wagen und ruft auf Englisch: „Vielleicht haben wir Glück!“

Lauri ist einer dieser besonderen Zufälle, die Reisen so unvorhersehbar machen. Am Rande des Bärenschnitzfestivals haben wir den stattlichen Finnen kennengelernt. Wir erzählten ihm von unserem neuen Projekt und dass wir auf den Spuren des Bären durch Finnland reisen. Und wie es der Zufall so will, ist Lauri seit Jahrzehnten Bärenjäger. Die Bärenjagd stand eigentlich nicht auf unserem Plan, wir schätzen das Leben in all seinen Facetten, und ein durch die Wälder streifender Bär ist uns in jeder Hinsicht lieber als ein getöteter. Aber wir wissen auch um die Bedeutung, die die Bärenjagd sowohl früher als auch heute noch in Finnland hat. Und die Möglichkeit, als Ausländer eine finnische Jagd zu dokumentieren, bietet sich mit Sicherheit nur einmal im Leben. Lauri geht seit vielen Jahren mit immer der gleichen Gruppe auf die Pirsch. Es ist eine eingeschworene Gemeinschaft, die noch nie Fremde mitgenommen hat, schon gar nicht von außerhalb Finnlands. Später erfahren wir, dass in der Gruppe lange und hitzige Diskussionen geführt wurden, dass man sehr skeptisch war, sich zu öffnen und dass viele Angst hatten, von uns verurteilt zu werden. Wir auf der anderen Seite hatten Befürchtungen, auf eine Gruppe schießwütiger und tierverachtender Jäger zu stoßen. Beide Seiten sollten sich umsonst Sorgen gemacht haben.

Nun stehen wir also zusammen mit Lauri mitten im Wald und wissen nicht so recht, ob wir seine Auffassung von „Glück“ in Hinblick auf den Jagderfolg teilen möchten. Insgeheim hoffen wir, dass sie keinen Bären aufgestöbert haben, und dass wir die Jäger und ihre Hunde ohne Beute treffen werden. Wie sich herausstellt, ist die Situation bei unserem Eintreffen unklar. Sie haben einen Bären aufgespürt, auf ihn geschossen, aber wissen nicht, ob er angeschossen oder tot ist. Lauri macht sich ein wenig Sorgen um unsere Sicherheit, ein verwundeter Bär ist gefährlich und unberechenbar. Kurz darauf erhält er einen Anruf. „Alles in Ordnung, die Hunde haben ihn gefunden, er ist tot. Wir können los.“

Nach einem kurzen Fußmarsch lichtet sich der Kiefernwald und wir stapfen durch hüfthohes Gras, das alsbald von dichtstehenden Beerenbüschen abgelöst wird. Immer öfter sinken wir schmatzend in den sumpfigen, moosbewachsenen Untergrund ein. Aus der Ferne dringt durch den sich lichtenden Bodennebel das Gebell von Hunden. Der verletzte Bär hatte wohl versucht, hier, in diesem unzugänglichen Gelände, Schutz zu finden. Vergebens. Kurze Zeit später erreichen wir die Jagdgruppe. Eingerahmt von mannshohen Birken umstehen die in leuchtend orangefarbene Warnwesten gekleideten Jäger den erlegten Bären. Vier Hunde sind kaum zu bändigen, ziehen aufgeregt an ihren Leinen. Neben dem etwa dreieinhalb Jahre alten männlichen Braunbären knien bereits zwei Männer und beginnen, das Tier an Ort und Stelle auszunehmen. Alles wird verwertet; das Fleisch gegessen, das Fell verkauft und aus dem aufgefangenen Blut werden Pfannkuchen gemacht. Seit jeher ist das so.

 

Plötzlich tauchen drei Beamte der Grenzpolizei auf. Sie wurden, wie es das Gesetz verlangt, unverzüglich verständigt, denn die Bärenjagd ist streng kontrolliert. Jahr für Jahr werden die Jagdquoten für jede Region neu festgelegt und rund zehn Prozent der Bärenpopulation zum Abschuss freigegeben. Ausgenommen von der Jagd sind Mutter- und Jungtiere. Private Jagdgruppen arbeiten dabei eng mit Polizei und Forstbehörde zusammen, jedes erlegte Tier wird vermerkt, die Personalien aller Beteiligten aufgenommen und der genaue Ablauf notiert. Die Ende August beginnende Bärenjagd endet, sobald die Abschussquote erreicht wurde. Ohne vorherige Schießprüfung und gültigen Jagdschein darf niemand teilnehmen. Die Gebühren, die die Forstbehörde damit einnimmt, werden zu einem guten Teil in die Erhaltung der natürlichen Ressourcen investiert. Ein Argument für die Bärenjagd, und genauso für das Jagen anderen Großwilds wie Elche, ist hier in Finnland auch der Erhalt eines Gleichgewichts der Tierarten – ein Gleichgewicht, das der Mensch nachhaltig gestört hat.

 

 

Mehrere kräftige Männer ziehen das Tier auf einer Pritsche hinter sich her durch das sumpfige Gelände und schließlich zurück durch den Wald. Schnell hat sich die Nachricht des Jagderfolgs herumgesprochen und aus den umliegenden Gemeinden versammeln sich Freunde und Bekannte an der Waldhütte der Jäger und warten auf deren Eintreffen. Die Jagd wird mit Hochprozentigem begossen, das Tier gewogen und anschließend gehäutet. Es stimmt, was die Finnin uns neulich erzählt hatte, der gehäutete Bär erinnert tatsächlich an einen muskulösen männlichen Oberkörper. Wir versuchen den Gedanken daran zu verscheuchen, dass dieser Haufen Muskeln, Fell und Sehnen vor wenigen Stunden noch ein lebendiges Tier war, erst am Anfang seines Lebens in der Wildnis.

Im Anschluss an die Jagd sitzen wir zusammen mit den Jägern und ihren Familien um ein rasch entfachtes Feuer, über dem verschiedene Speisen zubereitet werden. Manch einer aus der Gruppe geht schon seit über sechs Jahrzehnten jagen; Narben und Verletzungen vergangener Tage werden gezeigt und so manche Geschichte dazu erzählt, von lustig über traurig bis zotig. Es wird deutlich, dass es hier vor allem um den Zusammenhalt der Gemeinschaft geht, und um eine kurze Flucht aus dem Alltag.

 

 

Karelien ist eine recht arme Region in Finnland. In früheren Zeiten, vor allem nach dem Winter- und Fortsetzungskrieg, waren die Menschen hier zum Überleben auf die Jagd und den Fischfang angewiesen. Bis heute hat sich diese Tradition erhalten, auch wenn sie nicht mehr unbedingt lebensnotwendig ist, und wird von Gruppen wie dieser gepflegt. Wir sind froh, dass wir bei allen Beteiligten Respekt gegenüber dem erlegten Tier und der Natur spüren, dass wir keine Leichtfertigkeit oder gar Überheblichkeit in ihrem Handeln erkennen. Für uns wiederum wäre es leicht, die Männer zu verurteilen, aber so einfach wollen wir es uns nicht machen. Der an diesem Tag erfolgreiche Schütze geht bereits seit über 30 Jahren auf die Bärenjagd, heute hat er seinen dritten erlegt. Den im Jahre 2020 etwa 300 geschossenen Bären in Finnland stehen mehrere hundert Millionen getötete Tiere gegenüber, die Jahr für Jahr in den Kühlregalen unserer Supermärkte landen, sauber verpackt und anonym.

In den kommenden Wochen werden wir wieder auf die Jagd gehen. Aber diesmal bewaffnet mit Kameras und Teleobjektiven, denn unsere Jagdmethode auf das Nationaltier Finnlands ist eine unblutige und unsere Beute die Fotos auf unseren Speicherkarten.

 

 

 

Nordwärts
Drei Monate lang hieß für Ruth und Jürgen die grobe Richtung Norden. Ihr Weg führte sie über 12.000 Kilometer durch zehn Länder. Schwerpunkt der Reise lag auf Finnisch- und Russisch-Karelien und schließlich jenseits des nördlichen Polarkreises auf der Halbinsel Kola.
Die Klosteranlage Walaam, das Holzkirchenensemble Kischi, wilde Bären an der finnisch-russischen Grenze, der Archipel Solowezki im sturmumtosten Weißen Meer, Murmansk und schließlich die Überreste der tiefsten Bohrung der Menschheitsgeschichte sind nur einige Höhepunkte der Reise.

Neben persönlichen Erfahrungen enthält der Reisebericht viele Informationen rund um Kultur und Geschichte der bereisten Regionen. Über 340 Farbfotos auf 348 Seiten vermitteln einen eindrucksvollen Einblick in die vielleicht letzte Wildnis Europas.

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