Reisen einmal anders: Ohne Kerosin nach Berlin

Ohne Kerosin nach Berlin: 17 Tage lang fuhren motivierte Menschen aus der ganzen Bundesrepublik nach Berlin – um ein Zeichen für mehr Klimaschutz zu setzen. Kerstin Langenberger hat eine Gruppe von ‚Students for Future‘ begleitet und sich diese ungewöhnliche Aktion einmal genauer angeschaut.

 

Ich befinde mich auf der A100, die genau durch Berlin Tempelhof führt. Vor mir sehe ich ein Polizeiauto mit Blaulicht, die Gegenspur ist komplett leer, Vollsperrung. Meine Durchschnittsgeschwindigkeit in der letzten Stunde betrug nicht einmal 20 Km/h – normal im Autoland Deutschland, mag manch einer jetzt ironisch denken. Was ich bisher nicht erwähnt habe, ist, dass ich der Grund für die Autobahnsperrung bin – ich und die gefühlt über 1000 anderen Radfahrer, welche die letzte, finale Etappe einer über 800 Kilometer langen Fahrraddemo zurücklegen. Die Stimmung ist ausgelassen: für alle ist es ein Höhepunkt, mit dem Fahrrad auf einer dreispurigen Autobahn unterwegs zu sein. Ohne Kerosin nach Berlin, kurz auch OKNB, nennt sich dieser Fahrradprotest, initiiert von den ‚Students for Future‘ (einer unabhängigen Untergruppe von ‚Fridays for Future‘), bei welcher motivierte Menschen aus allen Teilen Deutschlands mit dem Fahrrad in die Hauptstadt reisen: um vor der anstehenden Bundestagswahl noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Klimakrise zu lenken.

 

 

In sechs verschiedenen Touren sind manche 14-17 Tage lang durch die Republik geradelt: von Flensburg und Oldenburg, von Karlsruhe, von Nürnberg, von Leipzig – und aus Köln. Jeder der pro Tour meist 40-70 Radfahrer*innen trägt sein/ihr persönliches Gepäck auf dem Drahtesel: Schlafsack, Zelt, Klamotten, Mittagessen – und Protestplakate. Der Kreativität sind hierbei sind keine Grenzen gesetzt! ‚Fridays for Future‘ und OKNB-Flaggen wehen zusammen mit beschriebenen bunten Stoffbändern von Gepäckträgern und Lenkern. Auch die Seiten der Gepäcktaschen sind mit Plakaten und Botschaften versehen, mit Sprüchen wie: „Für unsere Zukunft!“, „Verkehrswende jetzt!“, „You can’t eat money“, „Menschen über Profit“. In meiner Gruppe, der Westtour, fährt sogar ein liebevoll gezimmertes Braunkohlebagger-Modell mit, mühsam gezogen in einem Anhänger. Auch ein Lastenrad ist mit von der Partie, welches einen Lautsprecher transportiert, aus dem je nach Fahrer*in unterschiedliche Musik schallt: von poppiger 80er-Jahre Musik über Reggae und Techno bis hin zu gesellschaftskritischen deutschsprachigen Liedern und damit den klassischen Polit-Songs der Klimabewegung.

 

 

Bei der Frage, was die Teilnehmer*innen dazu bringt, über zwei Wochen lang Protest-Slogans rufend über deutsche Straßen zu radeln, steht ganz klar der Wunsch nach politischer Veränderung im Vordergrund. Die meisten hier sind erst Anfang Zwanzig – und sehen die Klimakrise als eine existenzbedrohende Katastrophe. Was Klimaschutz angeht, hinkt Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen hinterher: gesprochen wird über Klimaschutz zwar viel, politisch gehandelt aber bisher viel zu wenig. Dabei gibt es wissenschaftlich längst keine Zweifel mehr, dass wir nur mit äußerst konsequentem und schnellem Handeln noch in der Lage sind, die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu verhindern! Die Klimapolitik der kommenden zehn Jahre wird maßgebend darüber entscheiden, wie warm es auf der Erde werden wird: genau deswegen ist die anstehende Bundestagswahl so wichtig.

Ich selbst bin erst vier Tage vor Ende zur Westtour dazugestoßen: eine lebendige Gruppe von über 70 Menschen, von denen der Großteil schon seit Köln mit von der Partie ist. Es sind überwiegend junge Leute, aber auch einige Rentner*innen sind mit dabei: nur eine von ihnen nutzt ein E-Bike. Genächtigt wird in Zelten; die Übernachtungsorte sind meist mitorganisiert von den lokalen Fridays For Future-Gruppen, teils aber auch von den Städten bzw. Bürgermeistern. Die Aktivist*innen ernähren sich, wann immer möglich, ‚freegan‘ – also mit veganem Essen, das sonst im Müll gelandet wäre und durch Essensretter*innen und Foodsharing den Weg zu uns findet. Die gängigen Corona-Auflagen werden dabei natürlich befolgt: alle hier sind geimpft und tragen außerhalb der Gruppe Masken; wenn die uns tagsüber begleitende Polizei es so verlangt, dann sogar auf dem Fahrrad. Die Gruppe organisiert sich übrigens komplett selbst: während die einen Fahrräder reparieren, besorgen andere das Essen, kochen oder spülen ab, basteln an neuen Plakaten oder kümmern sich um die seelischen Belange anderer. Wenn es keine Demo gibt, wird abends oft etwas zusammen unternommen, getanzt und Musik gemacht: Schlaf ist bei so ziemlich allen Beteiligten absolute Mangelware.

 

 

Während meiner Tage auf dem Sattel werde ich positiv daran erinnert, dass die Klimabewegung sich konsequent auch für soziale Themen stark macht. Die Aktivist*innen setzen sich ein für mehr Inklusion und Diversität in unserer Gesellschaft, gegen Rassismus in jeglicher Form, für die Aufnahme von Geflüchteten, für ein respektvolles Miteinander aller Menschen unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und sexueller Identifikation und Orientierung. Im Sinne dieser Anliegen werden entlang der Route teilweise täglich Aktionen durchgeführt, oft in Form kleiner abendlicher Demos, um auch den lokalen Umgang mit der Klimakrise (und besagten anderen Themen) in den Fokus zu rücken.

Viele junge Menschen sind sich zudem der Tatsache bewusst geworden, dass die Älteren in unserer Gesellschaft mittlerweile in der Überzahl sind: 38% der Wahlberechtigten sind über 60 Jahre alt. Im Vergleich zu den Jungwähler*innen hat die Generation der Großeltern also einen viel höheren Einfluss auf die Bundestagswahl, weil sie zahlenmäßig weit überlegen ist. Die unter 18-Jährigen, welche am längsten mit der Klimakrise leben werden müssen, haben dagegen gar keine Stimme. Und auch weil Klimaschutz für das Gros der älteren Leute bisher nicht der ausschlaggebende Faktor für die Wahlentscheidung war, versuchen die jungen Menschen, mit den Älteren ins Gespräch zu kommen . „Oma, gib mir deine Stimme“ oder „Eltern wählen für ihre Kinder“ steht auf Aufklebern an Fahrrädern und an Ampelmasten. Und auch die „Omas (und Opas) for Future“ sind längst ein wichtiger Teil der Fridays for Future-Bewegung geworden!

 

 

Die gesamte Tour ist als fahrende Demo angemeldet und daher (bis auf wenige Ausnahmen) eigentlich immer mit Polizeieskorte unterwegs. Normalerweise begleiten uns nur zwei Streifenwagen (einer vor und einer am Ende des Fahrradkorsos): am letzten Tag, als wir nach Berlin einfahren, ist alles aber ein bisschen größer. Hunderte anderer Fahrradfahrer gesellen sich uns bei, genau wie mehrere Polizei-Motorräder und Streifenwagen, welche die Autobahnauffahrten sperren. Während wir an langen Kolonnen stehender SUVs vorbei radeln, reihen sich die blinkenden blauen Lichter der Polizeimotorräder nahtlos ein in unseren bunten Protestzug, der so lang ist, dass ich das Ende nicht sehen kann. Die Westtour ist ganz vorne mit dabei, genau wie auch unser Musik-Lastenrad. Die Stimmung ist super!

 

 

Und dann sind wir am Brandenburger Tor angekommen, wo bei strömendem Regen die Abschlussveranstaltung stattfindet. Für viele ist dies das Ende ihres politisch-motivierten ‚Fahrradurlaubs‘ – für mich schließen sich jetzt noch vier Tage im Klimagerechtigkeitscamp von ‚Fridays for Future‘-Berlin an. Auch hier sind jeden Tag Aktionen geplant: unter anderem finden hier täglich Vorträge und Workshops zu diversen Themen statt, gehalten von Wissenschaftler*innen und Fachleuten. Diese Klimacamps und Demos sind keine Zusammenkunft von Schulschwänzern, wie das ja immer noch gerne behauptet wird, sondern sind Anlaufpunkte, um sich weiterzubilden und Menschen kennenzulernen, die aktiv an einer besseren Zukunft mitarbeiten möchten. Umso trauriger ist es, dass die Klimabewegung immer noch und immer wieder lächerlich gemacht wird: „Ihr seid doch Spinner! Geht lieber arbeiten!“ schallte es täglich mehrmals von Passanten und Autofahrern zu uns herüber.

„Tun wir doch grade!“ riefen wir dann gerne zurück. Statt Geld zu verdienen, investieren wir unsere Freizeit in friedlichen Demonstrationen und breit-gefächertes politisches Engagement. Denn, ja, eine Demo ist nicht nur eine legitime Form politischer Beteiligung, sondern auch noch immens wichtig für eine funktionierende Demokratie. Viele der OKNB’ler engagieren sich in ihrer Freizeit regelmäßig in Verbänden, NGOs, politischen Parteien, im Bereich von Umweltschutz und Sozialem. All dies ist Arbeit, freiwillige, unbezahlte Arbeit – und eine ebenso wichtige politische Beteiligung, wie wählen zu gehen!

 

 

Und so will ich dann auch Dich auffordern, lieber Leser, doch bitte unbedingt Dein Kreuzchen bei dieser anstehenden Bundestagswahl zu machen, sofern Du das nicht schon längst getan hast. Für Unentschlossene gibt es da zwei gute Werkzeuge, um herauszufinden, welche Partei am besten zu den persönlichen politischen Ansichten passt (den Wahl-O-Mat) und wie sich die großen Parteien in Sachen Klimaschutz positionieren (der Klimawahlcheck).

Zwei Tage vor der Wahl, am 24. September, steht der nächste internationale Klimastreik auf der Agenda: die vielen Demos, die welt- und deutschlandweit stattfinden, sind ein hervorragender Anlaufpunkt, um den Klimaaktivismus zu unterstützen.

Der nächste (klimaaktivistische) „Brennpunkt“ wird nach der Wahl übrigens Lützerath sein. Dies ist ein Dorf im Rheinland, das dem Braunkohleabbau weichen soll – obwohl wir ja dringend vom Verbrennen dreckiger Kohle fortkommen müssen. Dieses Jahrzehnt ist das letzte, in dem Klimaschutz noch wirksam umgesetzt werden kann, bevor die Folgen der Klimakatastrophe wahrlich katastrophale Ausmaße annehmen werden. Und genau deswegen ist die Bundestagswahl nächste Woche so richtungsweisend – und politisches Engagement der Menschen wichtiger denn je zuvor!

 

Die OKNB-Westtour vor dem Brandenburger Tor, September 2021.

 

Mit dem Fahrrad nach Berlin, OKNB-Westtour 2021.

 

Klimacamp Potsdam, September 2021.

 

Stephan Rahmsdorf hält einen Vortrag im Klimagerechtigkeitscamp Berlin, September 2021.

 

Radfahrerin und Fotografin: Kerstin Langenberger

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