Finnland – unterwegs im Land der Bären (Teil 2)
Den letzten Schätzungen zufolge leben in Finnland zurzeit etwa 2500 bis 3000 Braunbären. Dennoch wird man als Wanderer vermutlich nie einem Bären begegnen, die Tiere sind sehr scheu und meiden wann immer möglich den Kontakt zu Menschen. Es gibt aber Möglichkeiten, seinem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Da die meisten wildlebenden Bären wahre Grenzgänger sind und regelmäßig aus den geschützten Gebieten Russlands nach Finnland wandern, finden sich ein paar Anlaufstellen zur Bärenbeobachtung auch im Osten des Landes. Und so kommt es, dass auch wir eines Nachts wieder auf der Lauer liegen und Ausschau nach den Königen des Waldes halten. Am späten Nachmittag sind wir durch Wald und Sumpf gewandert, hin zu einem kleinen Bretterverschlag, der für die kommenden 15 Stunden unser Unterschlupf sein wird. Schnell bereiten wir alles vor; richten unsere Kameras ein, legen den Proviant in Reichweite und setzen uns schon in den Schlafsäcken auf die Klappstühle. Alles ist recht provisorisch, das Klo ein kleiner Plastikmülleimer. Die größte Herausforderung wird sein, so wenig Geräusche wie möglich zu machen.
Die Oberfläche eines kleinen Sees breitet sich ruhig vor uns aus und fängt die Umgebung beinahe wie ein perfekter Spiegel ein. Es ist nicht verwunderlich, dass in früheren Zeiten in Finnland der Glaube weit verbreitet war, dass unter unserer Welt ein Feenreich existiert und diese klaren Reflexionen als Pforten dorthin gesehen wurden. In solch windstillen Minuten sollten die Grenzen zwischen den beiden Welten verwischen.
Die Sonne steht schon tief, streift über die Kronen der Bäume und bedient sich einer beinahe unwirklich anmutenden Farbpalette. Der Sumpf jenseits des Sees und die angrenzenden Wälder gehören bereits zu Russland. Viel Zeit, die Atmosphäre zu genießen, bleibt uns nicht, denn kaum haben wir die Stativköpfe mit viel zu laut knarzenden Schrauben am Holz der Hütte befestigt, sehe ich, wie sich in meinem Augenwinkel etwas Dunkles in das Gelb des sich langsam verfärbenden Grases schiebt. Instinktiv wandert mein Kopf in diese Richtung und der dunkle, sich bewegende Fleck entpuppt sich als Bär. Nicht als irgendein Bär, sondern als ein wahrer Riese seiner Art. Sanft, aber doch energisch stupse ich Ruth an und flüstere nur: „Bär.“ Der rasch auffahrende Kopf neben mir und die freudig glänzenden Augen bleiben als von mir erwartete Reaktion aus. Stattdessen breitet Ruth zu meiner großen Überraschung weiter seelenruhig den Proviant aus und meint nur: „Ja, klar.“ Erst als ich erneut ein ungläubiges, meinen Augen weiterhin nicht trauendes „Bär“ hauche, folgt Ruth meinem Blick. Ohne weitere Worte nehmen wir unsere Positionen ein und beobachten dieses Prachtexemplar eines Braunbären.
Seine Erscheinung ist ehrfurchtgebietend, sein Verhalten respekteinflößend. Mit jeder seiner Bewegungen macht er deutlich, dass er nichts und niemanden zu fürchten braucht. Selbstsicher und lautlos watet er durch den Sumpf, bleibt immer wieder lange stehen. Keine Vorsicht oder Unsicherheit sind zu spüren. Die Bären sind nun, so kurz vor dem bevorstehenden Winterschlaf, ein wenig rundlich und meist wohlgenährt, aber seine Ausmaße übersteigen alles, was wir bisher gesehen haben. Aber trotz seines Gewichts, das wir auf über 300 Kilo schätzen, bewegt er sich mühelos, beinahe geschmeidig durch den Morast, entlang des Sees. Um die Bären auseinander zu halten, geben wir ihnen Namen, und bei seiner Erscheinung fällt uns spontan nur einer ein: Goliath. Er nähert sich uns von der Seite und hebt von Zeit zu Zeit seinen massigen Schädel, um zu schnüffeln. Bären sehen schlecht, dafür hören und riechen sie umso besser.
Goliath weiß, dass wir hier, wenige Meter vor ihm, hinter einem Stück Stoff sitzen. Er kommt nochmals näher, ist nun nur noch rund zwei Meter von uns entfernt. Deutlich hören wir sein ruhiges, tiefes Schnaufen und etwas in uns sagt, dass es jetzt ratsam wäre, nicht weiter seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dennoch drücken wir ohne Unterlass die Auslöser unserer Kameras, deren Auslösegeräusche, obwohl im „Silent-Mode“, uns jetzt laut wie Donnerschläge vorkommen. Schon längst bekommen wir den Bären nicht mehr in seiner Gänze auf das Bild, nur noch Ausschnitte seiner gewaltigen Erscheinung können wir mit den montierten Teleobjektiven einfangen, und an einen Objektivwechsel ist jetzt nicht zu denken. Sein Kopf bewegt sich erneut in unsere Richtung, wir halten inne, und Goliath stapft durch den Sumpf seitlich an unserem Versteck vorbei und verschwindet aus unserem Sichtfeld. Er ist jetzt hinter uns; nach hinten und zu den Seiten gibt es keine Möglichkeiten, hinaus zu schauen. Wir verhalten uns ruhig, konzentrieren uns nur auf das Hören. Nach einiger Zeit ist es ganz still, er ist wohl weitergezogen.
Ruth und ich sehen uns an. Es dauert eine Zeit lang, bis wir etwas sagen. Es war das erste Mal während einer Bärenbeobachtung, dass wir wirklich froh waren über den Stoff als Sichtschutz und die dünnen Bretter, an denen er befestigt ist. Die Begegnung mit Goliath, die vielleicht insgesamt zehn Minuten andauert, in unserer Wahrnehmung aber deutlich in die Länge gezerrt wird, beeindruckt uns nachhaltig. Es wäre für den Bären ein Leichtes, zu uns in den Bretterverschlag zu kommen, ihn gänzlich einzureißen. Ein ausgewachsener Braunbär kann allein mit seinem Kiefer Beute von 450 Kilogramm ziehen, mit einem einzigen Prankenhieb das Genick eines Elches brechen. Er ist uns physisch in allem überlegen; auch wenn man es kaum glauben mag angesichts seiner Größe, so rennt er schneller als der schnellste menschliche Läufer, klettert und schwimmt besser als wir. Seine scheinbare Schwerfälligkeit ist in Wirklichkeit ein gezieltes Sparen an dringend benötigten Kalorien, er bewegt sich nicht schnell, wenn er es nicht muss. Und doch haben wir nichts von ihm zu befürchten, duldet er uns Eindringlinge in seinem Territorium, solange wir uns respektvoll und nicht provozierend verhalten. Eine Eigenschaft, die der Menschheit häufig abhandengekommen ist.
Ein paar Tage später an anderer Stelle läuft uns eine Bärenmutter mit vier Jungtieren vor die Kameras. Während der Nachwuchs neugierig und unbekümmert durch das hohe Gras tollt, ist die Mutter sichtlich angespannt. Immer nur kurz lässt sie die männlichen Artgenossen aus den Augen, die ebenfalls in der Gegend unterwegs sind, und von Zeit zu Zeit aus dem Wald heraustreten. Die größte Gefahr für junge Braunbären sind in den ersten Lebensjahren männliche Artgenossen.
Manchmal kommt es in der finnischen Natur zu Begegnungen, die direkt einem Drehbuch entnommen zu sein scheinen. Von einer solchen Begegnung kann Sulo berichten. Er lebte viele Jahre abgeschieden in den Wäldern der Grenzregion zwischen Finnland und Russland. Irgendwann wandten sich Wissenschaftler an ihn, und er half ihnen mit seiner Erfahrung bei verschiedenen Projekten das Verhalten der Tiere, vor allem der Bären, betreffend und behielt die Entwicklung der Populationen im Auge. Sein Wissen sprach sich rasch herum, und so wurde er immer häufiger zu Rate gezogen, wenn wieder einmal ein Bär bei einem Unfall mit einem Auto verletzt wurde oder Jäger einen weiblichen Braunbären erschossen hatten und sie jemanden benötigten, der sich um den Nachwuchs kümmerte.
Schnell war das Leben von Sulo nicht mehr einsam in den Wäldern, er lebte auf engstem Raum mit den Tieren, teilte Bett, Sofa und Küche mit ihnen und ging gemeinsam mit ihnen fischen. Eines Tages bekam ein weiblicher Braunbär namens Tessu Nachwuchs. Sulos Beisein wurde während der Geburt des kleinen Bären Juuso geduldet, und es entwickelte sich daraus eine ganz besondere Freundschaft, die bis heute, 21 Jahre später, besteht. Diese einmalige Beziehung hat sich im Laufe der Zeit in Finnland herumgesprochen, aus Sulo wurde „der Bärenmann“ und aus Juuso der größte Braunbär Europas, der jetzt, kurz vor dem Winterschlaf, 483 Kilo auf die Waage bringt.
Wenn sich der Menschenkopf und der ungleich größere Schädel des Bären aneinanderschmiegen, dann ist es schon ein beinahe unwirkliches Bild, das sich uns bietet. Man neigt ja gerne dazu, dem Tier menschliche Gefühle zuzusprechen und meint, in seinem Blick oder Gesichtsausdruck etwas zu erkennen. Aber selbst wenn man all diese vermenschlichenden Anwandlungen und Interpretationen außer Acht lässt, spürt man eine tiefe Zuneigung und eine sie sehr lange, tief verbindende Freundschaft zwischen den beiden Lebewesen.
Sulo lebt mittlerweile sehr zurückgezogen und meidet den Trubel um seine Person weitestgehend. Umso dankbarer sind wir, dass er sich trotz seines hohen Alters die Zeit nimmt, um uns seine Geschichte zu erzählen und gemeinsam mit uns zu Juuso ins Gehege zu gehen. Der Bär, dessen Schulterhöhe beim Stehen auf vier Pfoten dem Menschen beinahe bis zum Kopf reicht, begrüßt den Zweibeiner mit einem schmatzenden Kuss mitten ins Gesicht. Sulo steckt sich ein Stück Lakritz zwischen die Lippen und Juuso nimmt es ihm ganz behutsam und vorsichtig ab. So wie bei dem Austausch der ein oder andere Speichelfaden eine zusätzliche kurzzeitige Verbindung zwischen den beiden herstellt, so verschwindet auch das ein oder andere Stück Lakritz zwischendurch in Sulos eigenem Magen. Auch die mittlerweile 24-jährige Tessu kommt, um ihren Teil der leckeren Mitbringsel einzufordern. Der von einer schweren Verletzung gezeichnete Mann blüht auf, wenn er inmitten der Bären steht, und ein breites Lächeln ziert sein Gesicht, wenn er seine Hände tief in ihrem Fell vergräbt und sie sich wohlig unter seinen Berührungen winden. Bei all dem Schmusen merkt man, dass Sulo genau auf seine Bewegungen und die Reaktion der Bären achtet. Trotz der Zutraulichkeit darf man nicht vergessen, dass der Bär allein durch sein Gewicht durch Übermut oder Unachtsamkeit dem Menschen beim Spiel schwere Verletzungen zufügen könnte.
Vielleicht basiert diese ungewöhnliche Freundschaft, neben tiefer Zuneigung und Vertrauen, darauf, dass sich der Mensch und der Bär einander angenähert und sich irgendwo in der Mitte getroffen haben. Eine Aussage Sulos fasst es ganz gut zusammen: „Wenn du lange in den Wäldern gelebt hast, wirst du selbst ein Stück weit zu einem wilden Tier.“
In wenigen Wochen werden sich Tessu und ihr sie bei weitem überragender Nachwuchs zum gemeinsamen Winterschlaf zurückziehen. Aber nicht nur die Tiere reagieren auf die fallenden Temperaturen und die kürzer werdenden Tage, auch die Pflanzenwelt beginnt, sich anzupassen. Und hier im Norden tut sie es auf ganz besonders eindrückliche Weise. Und so wird es für uns Zeit, aufzubrechen, denn wir wollen das farbenfrohe Spektakel der Natur in all seiner Pracht jenseits des Polarkreises, in Lappland, genießen. Voller Vorfreude nehmen wir viele Kilometer Asphalt und Schotter unter die Räder und fahren der Ruska, den Herbstfarben des Nordens, entgegen, und ahnen bereits, dass unsere Kameras abermals heiß laufen werden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nordwärts
Drei Monate lang hieß für Ruth und Jürgen die grobe Richtung Norden. Ihr Weg führte sie über 12.000 Kilometer durch zehn Länder. Schwerpunkt der Reise lag auf Finnisch- und Russisch-Karelien und schließlich jenseits des nördlichen Polarkreises auf der Halbinsel Kola.
Die Klosteranlage Walaam, das Holzkirchenensemble Kischi, wilde Bären an der finnisch-russischen Grenze, der Archipel Solowezki im sturmumtosten Weißen Meer, Murmansk und schließlich die Überreste der tiefsten Bohrung der Menschheitsgeschichte sind nur einige Höhepunkte der Reise.
Neben persönlichen Erfahrungen enthält der Reisebericht viele Informationen rund um Kultur und Geschichte der bereisten Regionen. Über 340 Farbfotos auf 348 Seiten vermitteln einen eindrucksvollen Einblick in die vielleicht letzte Wildnis Europas.
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