Pilgern in Südnorwegen

Schon im Mittelalter pilgerten die Menschen nach Trondheim, um dem heiligen St. Olav zu huldigen. 1997 wurde der Pilgrimsleden wieder eröffnet und bietet alles was das Pilgerherz begehrt: verwunschene Wälder und weite Täler, stille Seen, die Einsamkeit des Fjells, sowie urige Herbergen und jahrhundertealte Kirchen.

An einem sonnendurchfluteten Junimorgen legt die Fähre „Color Magic“ im Hafen von Oslo an. Ich kann es kaum erwarten den schwimmenden Hotel- und Shoppingkomplex zu verlassen und endlich wieder loszulaufen. Gestern bin ich in meiner Geburtsstadt Kiel gestartet, um meine sieben Jahre zuvor begonnene Pilgerwanderung auf dem St. Olavsweg fortzusetzen. 2015 war ich von Hamar über Lillehammar und die alte Stabkirche von Ringebu nach Kvam im Gudbrandsdalen gewandert. Damals musste ich den Weg dort unterbrechen, weil eine schmerzhafte Muskelentzündung jeden Schritt zur Qual werden ließ. Ich hatte meinem Körper zu schnell zu viel zugemutet. Aber der Olavsweg hatte mich nie losgelassen und nun lag die nächste Etappe, der Abschnitt von Oslo nach Hamar, wie ein Versprechen vor mir, gefüllt mit meinen Hoffnungen, Ängsten und Erwartungen.
Der Name des Weges geht zurück auf König Olav II. Haraldsson. Er wurde 1030 in Nidaros, dem heutigen Trondheim begraben und schon wenig später heilig gesprochen. Um die Gestalt des kriegerischen Wikingerkönigs ranken sich Mythen und Legenden. Er gilt als früher Repräsentant des Christentums, ein Nationalheiliger, der Trolle und Teufel vertrieb und Wunder vollbrachte. Der Sankt-Olav-Schrein im Nidarosdom wurde schnell zum wichtigsten Wallfahrtsort im Norden. Viele Wege führen dorthin, aber wie die meisten Pilger entscheiden sich für den 650 Kilometer langen Weg von Oslo nach Trondheim.

Ausschau halten nach dem Olavskreuz

Mein Rucksack ist schwer obwohl ich mit Hilfe einer Küchenwaage versucht habe um jedes Gramm zu feilschen. Aber ich bin Fotograf und habe es nicht übers Herz gebracht, auf meine Spiegelreflexkamera zu verzichten. Außerdem konnte ich nicht widerstehen, ein ultraleichtes Einmannzelt einzupacken. Es gibt mir die Freiheit, meine Tagesetappen flexibel zu gestalten. In Norwegen gilt das Jedermannsrecht. In der Natur zu übernachten ist erlaubt, vorausgesetzt man verhält sich rücksichtsvoll und beachtet ein paar Grundregeln. 

Aber noch bin ich weit entfernt von verwunschenen Wäldern und dem einsamen Berglandschaften. Schwitzend laufe ich über Oslos Asphalt. Norwegens Hauptstadt ist in den letzten Jahren zu einer Hochburg für moderne Architektur geworden. Wie ein gestrandeter Eisberg liegt die Oper, das neue Wahrzeichen der norwegischen Hauptstadt, im Stadtteil Bjørvika. Ich lasse sie hinter mir und erreiche gegen Mittag den ersten Meilenstein im Mittelalterpark. In den kommenden Tagen wird mir das Olavskreuz den Weg weisen. Ob auf Leitplanken, an Bäumen, Holzpfosten oder Straßenschildern: immer wieder halte ich Ausschau nach dem Kreuz und werde unruhig, wenn das Zeichen längere Zeit nicht auftaucht. Es gibt Etappen die hervorragend markiert sind, aber auch Abschnitte an denen ich ein überwachsenes Kreuz übersehe und meinen Weg neu suchen muss. Es ist wie im Alltag: manchmal bewegen wir uns mit schlafwandlerischer Sicherheit und ohne Zweifel durchs Leben, an anderen Tagen hoffen wir auf Signale und Zeichen, die uns dabei helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. 

Keine Pilgerreise ohne Zweifel

Gerade als ich überlege, wie ich zu einem Foto vor dem Meilenstein komme spricht mich eine junge Mutter mit Kinderwagen an. Schmunzelnd verrät sie mir, dass ich nicht der erste Pilger bin, den sie hier in Szene setzt. Sie wohnt in diesem Viertel und die Olavspilger sind ihr vertraut. Sie wünscht mir gutes Gelingen und nickt mir aufmunternd zu. In diesem Moment wird mir klar, dass die eigentliche Tagesetappe erst jetzt offiziell beginnt. Bis zum Tagesziel, der Pilgerherberge Aaraas, sind es noch 18 Kilometer. Und die haben es in sich. Mein Körper protestiert gegen die ungewohnte Belastung. Die Schultern schmerzen, die Muskeln brennen und der Rucksack scheint mit Zement gefüllt. Vor einer Woche lag ich noch mit Corona im Bett und musste die Abreise immer wieder verschieben. Leise Zweifel regen sich. Gehe ich ein gesundheitliches Risiko ein? Warum habe ich mich aller Strapazen zum Trotz wieder auf den Weg gemacht? Ich kenne die Antworten: weil ich mich mit der Natur verbinden möchte und Begegnungen mit besonderen Menschen auf mich warten. Weil ich meinen Gedanken freien Lauf lassen und in Ruhe über den Sinn des Lebens nachdenken kann. Weil ich mit jedem Schritt ausgeglichener und stärker werde – physisch und psychisch. Weil ich beim Pilgern daran erinnert werde wie wenig wir brauchen, um glücklich zu sein. Scheinbar profane, ja selbstverständliche Einsichten, die ich aber erst beim Wandern und Pilgern wirklich verinnerliche.

Aller Anfang ist schwer

Langsam windet sich der stetig ansteigende Weg aus der Stadt heraus. 1,5 Millionen Menschen leben in Groß-Oslo, also fast ein Drittel aller Norweger. Ich laufe durch Vororte mit hochaufragenden Wohnblocks, quere die Autobahn Richtung Trondheim und stehe irgendwann ratlos vor einem Clubhaus der Hells Angels. Wo geht es weiter? Ein Biker wie aus dem Bilderbuch bringt mich mit einem lässigen Fingerzeig und ohne große Worte auf den richtigen Weg zurück. Nachdem ich ein Industriegebiet durchquert habe geht es hinauf zur Furuset Kirche. Hier befreie mich von meinem Rucksack und lege mich restlos erschöpft auf eine Bank. Als ich wieder aufwache sehe ich gerade noch, wie eine ältere Dame mit Rucksack mir zuwinkt. Eine Pilgerin? Bis ich mich aufgerappelt und den Rucksack geschultert habe ist sie längst verschwunden. Mir geht es nicht gut. Der Puls ist hoch, mir ist schwindelig und die Hitze setzt mir zu. Wenig später, vor einem Einkaufszentrum, kapituliere ich. „Und das an meinem ersten Tag!“ denke ich frustriert. Aber falscher Ehrgeiz ist fehl am Platz. Das sieht auch Mohammed so, ein sudanesischer Taxifahrer, den mir der Himmel schickt und der mich in nur fünfzehn Minuten nach Aaraas fährt. Selten waren 40 Euro so gut angelegt! Margarete, die Herbergsmutter, verordnet mir Ruhe und verwöhnt mich und die anderen Pilger am Abend mit einem fantastischen Essen. Mit am Tisch sitzen Beatrice (70) und Sybille (65), zwei starke Frauen, die mich unter ihre Fittiche nehmen und aufmuntern. Es war Beatrice gewesen, die ich in Furuset gesehen hatte. Wir werden uns in den nächsten Tagen immer wieder begegnen und Freundschaft schließen. Der Weg verbindet uns. 

Am nächsten Tag lasse ich es langsam angehen. Erst am frühen Nachmittag breche ich auf, taste mich ans richtige Tempo heran, höre auf die Signale, die mein Körper sendet. Oslo liegt hinter mir, es wird ländlicher und ruhiger. In Ullereng gård wartet eine skurril-liebenswerte Unterkunft auf mich. Anneline, die Gastgeberin lässt mir die Wahl zwischen einem Bett im ehemaligen Schweinestall oder im alten Stabbur, dem traditionellen Lebensmittelspeicher in alter norwegischer Holzbaukunst. Keine einfache Entscheidung! Am Ende nächtige ich im Stall zwischen einem verstaubten Klavier und dem Brautkleid von Annelines Großmutter. Ich bin der einzige Gast und genieße es. 

Warum wir pilgern

Bei meiner ersten Begegnung mit dem Olavsweg 2015 war ich nicht in Oslo gestartet, sondern in Hamar an der Ruine der mittelalterlichen Kathedrale. Ich werde nie vergessen, wie Mari, eine norwegische Musikstudentin, mich mit Solveigs Lied aus der Peer Gynt Suite und einem Schlaflied von Secret Garden auf meine Pilgerwanderung einstimmte. Auf dem Weg von Ullereng gård nach Arteid Vestre gård kommen mir Melodie und Text des „Sleepsong“ plötzlich wieder in den Sinn: „Mögest Du Freundlichkeit finden in allem, was du triffst“ heißt es an einer Stelle, „mögen dort immer Engel sein, um über dich zu wachen um dich jeden Schritt des Weges zu führen.“ 

Die Zeilen lassen sich auch als Pilgersegen lesen und als Aufforderung, sich dem Weg anzuvertrauen – mit all seinen Herausforderungen und Schwierigkeiten. Früher war eine Pilgerreise eindeutig religiöser Natur. Die Pilger erhofften sich, von Sünden erlöst und von Krankheiten geheilt zu werden. Dafür riskierten sie ihr Leben. Heute sind es nicht zwingend religiöse Motive, die Menschen zum Pilgern bringen. Der Pilgerpfarrer Roger Jensen schreibt dazu: „Das Pilgern deckt ein Bedürfnis. Der Wunsch, sich auf eine Reise zu einem fernen Ziel zu begeben, liegt in uns Menschen verborgen. Pilgern bedeutet, sich vom Alltag und der Heimat zu lösen und gemeinsam mit anderen, denen man auf dem Weg begegnet, einen Sinn und eine neue Richtung für das Leben zu finden.“ 

Genau auf diese gemeinsame Sinnsuche begebe ich mich am Abend in Arteid Vestre gård mit Xavier aus Guadalupe. Der junge Mann mit den imposanten Rastazöpfen und der dunklen Sonnenbrille strahlt Glück und Zufriedenheit aus. Während wir Labskaus aus der Dose essen und mit einem kühlen Carlsberg anstoßen philosophieren wir über Gott und die Welt. Xavier hat das Wandern und Pilgern zu seinem Lebensinhalt gemacht. In der Corona-Zeit ist er durch Schweden gelaufen. Jetzt heißt sein Ziel Nordkap. Jedes Jahr kehrt er für drei Monate zurück nach Guadalupe, um Geld zu verdienen. Er ist in Sandalen unterwegs und hat nur einen winzigen Rucksack dabei. Dafür einen großen Kopfhörer, denn der richtige Sound auf dem Weg, verrät er mir lachend, ist entscheidend.

Durch verwunschene Wälder zum Mjøsa-See

In den nächsten Tagen komme ich immer besser zurecht. Der Rucksack ist nicht leichter geworden, aber ich gewöhne mich an die Belastung. Meist starte ich früh am Morgen, denn das Thermometer klettert bis zum späten Nachmittag regelmäßig auf über 30 Grad. Wälder und Wiesen lechzen nach Regen, die Wege sind staubtrocken. Die Folgen der Klimakrise sind auch in Norwegen nicht zu übersehen. Über Jessheim und vorbei am Flughafen Gardermoen führt mich der Weg nach Eidsvoll, der Geburtsstätte der norwegischen Verfassung. Ich verbringe eine stürmische Gewitternacht in einem zur Pilgerunterkunft umgebauten Gewächshaus. Eine gute Übung in Gottvertrauen. Mit Beatrice laufe ich auf einsamen Trampelpfaden durch verwunschene Wälder. Blau-glitzernde Libellen tanzen über rötlich schimmernden Bachläufen. Wir balancieren über umgestürzte Birkenstämme und schwimmen in dunklen Waldseen. Nach zwei Tagen erreichen wir den größten See Norwegens, den Mjøsa. Der Weg führt uns auf der Landstraße weiter nach Hamar, vorbei an Kirchen, Feldern und einer Erdbeerfarm. Als wir in die Stadt kommen spielen die Glocken der Domkirche zur Begrüßung John Lennons „imagine“. Müde aber erfüllt steige ich den Abendzug nach Kvam. Dort im Gudbrandsdalen, unweit des Dovrefjells, werde ich meine Pilgerwanderung fortsetzen. Ich spüre Vorfreude und hadere nicht mehr mit den Rückschlägen und Unterbrechungen sondern nehme sie an. Sie sind Teil meiner Olavsweg-Erfahrung. An ihnen kann ich wachsen.

Olavsweg:
Durch Norwegen und Schweden führen mehrere Pilgerwege nach Trondheim zum Grab des Heiligen Olav. Er war norwegischer König von 1015 bis 1028 und fiel 1030 in der Schlacht von Stiklestad. Die Hauptroute der insgesamt neun Wege, der Gudbrandsdalsleden, führt über mehr als 640 Kilometer von Oslo über Hamar und Lillehammer nach Trondheim. Die offizielle Seite zu allen Olavswegen gibt es auch auf englisch unter https://pilegrimsleden.no/en/

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