Zwischen den Sphären

La Clochette ist mehr als nur ein bukolisches Landgut in der südwestfranzösischen Gironde. Es ist ein so erholsamer wie inspirierender Schnittpunkt von Natur, Kunst, Design und nicht zuletzt den Leben zweier wunderbarer Gastgeber. Und das vielleicht Beste daran: Man kann ihn mieten.

Es gibt diesen einen Moment, der nicht alles, aber eine Menge verrät. Er ereignet sich, als Patrick plötzlich auf einem Wiesenstück innehält, in die Hocke geht und vier Marienkäfer behutsam auf seinen linken Handteller krabbeln lässt. Mit den Fingern seiner Rechten baut er dem Quartett eine Höhle und trägt es dann so vorsichtig, als transportiere er Goldstaub, zu einem Gewächshaus. Dort geht er wieder in die Knie und entlässt die Käfer auf Stangenbohnen. Noch versteht man nicht, was es mit dem Insektenshuttle auf sich hat; doch man ahnt, dass es mit dem Grund zu tun haben muss, warum man sich so wohlfühlt im Landsitz La Clochette du Chateau de Carney. Aber der Reihe nach.

Die Anreise führt durch eine von Weinreben in immer neue Richtungen gekämmte Landschaft unter einem Himmel aus blauem Porzellan. Trutzburgenhafte Dörfer dösen vor sich hin, Olivenbäume gleißen silbergrün, manchmal stehen Limousin-Rinder wie Spielzeug auf einer Weide. Der amerikanische Schriftsteller Henry Miller fällt einem ein, der die Dordogne „das Paradies der Franzosen“ nannte. Je liebevoller sie vom Nachmittagslicht präpariert wird, desto größer wird die Hoffnung, die Fahrt dauere noch ein bisschen länger. Doch irgendwann verkündet die Stimme des Navigationsgeräts im Departement Gironde, man habe sein Ziel erreicht. Auch gut. Denn wenn man irgendwo ankommen will, dann hier.

Der ehemalige Pferdestall und das Gesindehaus des Chateau de Carney erheben sich mit ihren Anbauten, Giebeln, schmiedeeisernen Balustraden und weiß lackierten Sprossenfenstern wie eine Demonstration tief eingewurzelten Formensinns aus den Weinfeldern. Die hellen, ins Karamellbraune spielenden Sandsteinquader scheinen sich mit der Sonne des Tages vollgesogen zu haben. Fast glaubt man, sie atmeten und lebten ihr eigenes Leben. An der Stirnseite thront ein gemauerter Glockenstuhl auf dem Dachfirst und gibt dem Ensemble aus dem 17. Jahrhundert seinen Namen – clochette ist das französische Wort für Glöckchen.

 

 

Biografischer Knotenpunkt

„Die Glocke hatte man früher geschlagen, um die Arbeiter zum Mittagessen zu rufen“, erklärt Patrick Staehle, als er mit breitem Willkommenslächeln vor die Tür tritt und den Gast hereinbittet. Er ist groß und schlank und sieht ein bisschen aus wie der Comic-Held Leutnant Blueberry aus der Feder des berühmten französischen Zeichners Jean Giraud. Vielleicht liegt es ja daran, dass seine Familie mütterlicherseits aus Frankreich stammt – genauso wie die seiner Partnerin Sandra Ewald. Mit honigblondem Zopf erscheint sie gleich auf der Terrasse und begrüßt den Gast nach französischer Art mit zwei angedeuteten Wangenküssen. Während Patrick eine Flasche Weißwein entkorkt, schickt Sandra die beiden Hunde mit eleganter Geste in die Tiefe des Gartens. Dort leuchtet ein Pool in so delikatem Babyblau, als habe man mit Farbe nachgeholfen. Es handelt sich aber um reines, ungechlortes Salzwasser, und das macht ihn noch einladender.

Die beiden sind in Stuttgart geboren und aufgewachsen und haben sich mit diesem Anwesen einen Lebenstraum erfüllt. So stünde es jedenfalls in einem Roman von Charlotte Link. Dem Paar jedoch wäre das zu trivial formuliert. „Das klänge zu endgültig, zu sehr nach Ruhesitz. Wir sehen in La Clochette vielmehr eine Art biographischen Knotenpunkt, an dem sich unsere bisherigen Erfahrungen, Ideen und Wünsche verdichten“, sagt Sandra, die seit rund 25 Jahren in der Kommunikationsbranche arbeitet, als preisgekrönte Designerin eigene Studios gründete und eins gemeinsam mit Patrick führt. So sind das Haus und die beiden Ferienwohnungen, die man alle komplett oder teilweise mieten kann, nicht einfach nur Unterkünfte für einen wunderschönen Urlaub. Sie sind eine zwischenzeitliche Manifestation von zwei Menschenleben, Etappe einer Sinnsuche, die nie abgeschlossen und immer in Bewegung ist. Zu diesem Abenteuer gehört natürlich auch Sohn Noé, der hier in Kontakt mit den französischen Wurzeln seiner Eltern kommen und die Zeit in der Familie ohne die atemlose Taktung und Segmentierung der Großstadt genießen kann.

 

 

Beim weinglasbewehrten Gang ins Gebäude setzt sich der erste Eindruck von La Clochette fort: Die unverputzten, lichttrunkenen Sandsteinquader wirken so archaisch wie modern. Ein glatter Glücksfall, dieses Haus, oder? „Und ob“, sagt Patrick. „Als wir es 2018 kauften, sah es hier allerdings noch anders aus. Alles war übel holzverschalt. Die siebziger Jahre mit ihrem Veränderungswahn eben. Man kam sich vor wie in einer piefigen Saunalandschaft.“ Heute dagegen fungieren die freigelegten Naturwände als Bühne für ein Interieur im schönsten Gleichgewicht: Ein bisschen weniger wäre zu wenig, ein bisschen mehr wäre zu viel. Auf dem Eichenparkett verteilen sich schlichtschöne Holzschränke mit einer Maserung, die man poetisch nennen muss. Schwungvolle Thonetstühle umstehen einen wuchtigen Esstisch. Kunstbände füllen Regale zwischen unprätentiösen Säulen. Und mit der offenen Profiküche aus Edelstahl kontrastiert eine alte, charismatisch zerschrammte Werkbank aus einer Stuttgarter Schreinerei als Arbeitsplatte. Vieles haben Patrick und Sandra nicht im nahen Bordeaux erstanden, sondern auf Landpartien zu Flohmärkten und Wohnungsauflösungen der Gegend. Die neu bezogenen Ohrensessel und die Sofagruppe vor dem Kamin wiederum sind eine Reminiszenz an die schwäbische Heimat. Sie gehörten Patricks Großeltern.

Kunst von Rang

Von diesem Familienzweig väterlicherseits erzählt er auf dem Weg zu den beiden Ferienwohnungen. Sein Urgroßvater gründete 1908 in Stuttgart die Gärtnerei Staehle, die bald berühmt wurde durch die Etablierung der amerikanischen Remontant-Nelken in Europa – man bezog die Stecklinge von Verwandten aus den USA und belieferte bald den ganzen Kontinent mit ihnen. Später wurde die Nelke zu einem sozialistischen Symbol und verlor damit ihre Unverfänglichkeit als stilvolles Präsent. Wer wollte schon mit seinem Mitbringsel politische Dispute vom Zaun brechen? Patrick übernahm den Gärtnereibetrieb nach einem Studium der Betriebswirtschaft in Mannheim und Nancy sowie mehreren Jahren als Marketingchef einer kanadischen Softwarefirma.

Wie das gesamte Haus sind auch die beiden großzügigen Wohnungen mit minimalistischem Fingerspitzengefühl eingerichtet und weit davon entfernt, den Kältetod der Perfektion zu sterben. Der Sisalboden, die filigranen Korblampen, die jahrhundertealten Querbalken – alles ist warm und licht und spielt mit Akzenten, die dem Ganzen einen unverwechselbaren Effet verleihen. Etwa diese Nachttischlampen im Industrial Design, oder diese alten horizontblauen Eisenstühle, die Patrick in einem Provinzkrankenhaus aufgetrieben hat.

 

 

Viel mehr als nur charmante Blickfänge sind indes die Kunstwerke von Weltrang, die Sandra und Patrick als leidenschaftliche Sammler mit ihren Gästen teilen. Die meisten stammen aus den Ateliers befreundeter Künstler wie Matthias Megyeri. So begegnet man in La Clochette etwa Prototypen seiner Serie „Sweet Dream Security“ – Metamorphosen von Gitterzäunen und Eisenketten, die 2005 Teil einer Gruppenausstellung des New Yorker Museum of Modern Art gewesen waren und dort heute in der permanenten Sammlung zu finden sind. Lange steht man dann im Haupthaus vor einer energisch in die Höhe wallenden, sich an der Spitze eigentümlich verzweigenden Skulptur und rätselt. Ein Fabelwesen mit Hörnern? Der Fiebertraum einer Pflanze? Irgendein organisches Geschehen in XXL? „Es ist die Explosion der Raumfähre Challenger im Januar 1986 etwa 70 Sekunden nach dem Start“, erklärt Patrick. „Julius von Bismarck hat die gigantische Rauchsäule als Aluguss nachgebildet und dann verätzt. Ein wissenschaftliches und für Julius typisches Thema: Der permanente Versuch des Menschen über die Natur hinauszuwachsen. Dass er dabei immer wieder scheitert, ist furchtbar. Aber das gehört zur Forschung dazu.“

 

 

Kunst wie diese bewirkt, dass das Hirn in La Clochette zwar Pause von sich selbst machen kann; aber es schaltet nie in geistlosen Leerlauf, sondern bleibt wohltuend in Schwingung. So scheint auch das Frühstück auf der eigenen Terrasse wie dafür geschaffen zu sein, angenehm diffusen Gedanken nachzuhängen, zerstreut und konzentriert zugleich. In der Luft Bienengesumm und süß perlendes Vogelgezwitscher, in den Baumkronen ein welpenhaft verspielter Wind. Hebt man den Blick, verliert er sich in einer Weite, die man mit wenigen chiffrehaften Strichen zeichnen könnte. Das ist der Moment, in dem einem Julius von Bismarck wieder einfällt. Immerhin wähnt man sich hier auf der Trennlinie zwischen Kunst und Kultur auf der einen und überbordender Natur auf der anderen Seite.

Weltrettung en miniature

Aber es existiert auch eine Art Zwischenreich: der 10.000 Quadratmeter große Garten, dem etwas kunstvoll Verwildertes anhaftet. An manchen Stellen sieht er aus wie eine Wiese von Monet. Es ist ein Areal, das La Clochette zu einem nahezu autarken Anwesen macht. Es gibt hier nicht nur Solarpanele, einen Brunnen und Eier von eigenen Hühnern. Es gibt auch ein ganzes Wimmelbuch voller Kräuter- und Gemüsesorten. Fenchel, Artischocken, Rhabarber, Rucola, Mangold, Currykraut, Zitronenmelisse, Oregano, Salbei, Spargel, Erdbeeren, Süßkraut, Peperoni – Patrick und Sandra werden mit dem Zeigen und Aufzählen gar nicht fertig. Dazu scheint alles mit allem zusammenzuhängen und den Betrachter selbst miteinzubinden. Dass Patrick plötzlich die vier Marienkäfer versetzt, kommt einem wie ein besonders schöner Ausdruck dieser allumfassenden Wechselwirkung vor, die La Clochette mit einem eigentümlichen Zauber tränkt. „Marienkäfer fressen Blattläuse und sind die natürlichsten Schädlingsbekämpfer überhaupt“, erklärt er später. Die setzte Patrick schon ein, als er noch im konventionellen Gartenbau arbeitete. Die Nachhaltigkeit hat hier jedoch einen ganz anderen Stellenwert als dort.

„Was wir hier machen, heißt Permakultur“, sagt Sandra. „Oder seien wir ehrlich: Was wir hier zu machen versuchen.“ Bei diesem Geduldsspiel von einem Konzept gehe es darum, mit und nicht gegen die Natur zu arbeiten. Ohne chemische Düngemittel, dafür mit rein ökologischen Kreisläufen, die man erkennt, indem man die Natur bei ihrer Selbstorganisation beobachtet. „Zum Beispiel werden Pflanzen eng gesetzt, damit sie sich gegenseitig vor Hitze schützen und besser Wasser speichern können, sorgen Blütengewächse für Insekten, die das Gemüse bestäuben. Oder nimm die Hühner: Sie scharren Schnecken und Schädlinge aus dem Boden, den sie wiederum durch ihren Kot düngen.“ Ob man damit die ganze Welt zurück auf einen sinnvollen Pfad bringen könne, sei natürlich ungewiss, meint Patrick. Aber im Kleinen begriffe man, dass die große Agrarindustrie nicht von vornherein alternativlos sei. „Und das allein stiftet eine große Befriedigung.“

 

 

In der Welt von La Clochette reicht es, einfach nur da zu sein. Im Pool zu schwimmen. In der Sauna zu entspannen. Kunst und Architektur, Design und Natur auf sich wirken zu lassen. Oder auf dem hektargroßen Anwesen Entdeckungen zu machen wie die chinesischen Seidenhühner, die an laufende Pusteblumen erinnern. Aber natürlich gibt es auch unzählige Ausflugsmöglichkeiten. Zur Atlantikküste mit ihren Riesendünen, Austerndörfern und Badeorten etwa, ins urbane Wunder Bordeaux oder in die Weinanbaugebiete von Saint Émilion, Pomerol und Fronsac, wo mittelalterliche Städte wie aus einem Historiendrama hinter jeder Ecke mit neuen Entdeckungen aufwarten.

Vielleicht am schönsten trinkt man seinen Wein jedoch auf einer der Terrassen von La Clochette. Warum? Weil Franz Grillparzer recht hat, wenn er schreibt, dass sich die Kunst zur Natur verhalte wie der Wein zur Traube. Wer hier bei einem Glas sitzt, spürt geradezu, wie sehr der Wein als Geistesnahrung wirkt, wie wunderbar er den Balanceakt von La Clochette zwischen diesen beiden Sphären symbolisiert. Am letzten der rosa verglimmenden Abende öffnet Patrick einen Rotwein, der um die Ecke wächst und von einem befreundeten Winzer strikt biologisch-dynamisch produziert wird. Die Cuvée aus Merlot und Bouchalès stammt sogar aus jenen wenigen uralten Reben, die es schafften, der Reblauskatastrophe im späten 19. Jahrhundert zu entgehen, die damals so gut wie alle alten Bestände in Europa vernichtet hatte. Man hielt den Schädling von den Stöcken fern, indem man die Weinfelder mit den Wassern der Dordogne flutete. Und was soll man sagen? Wenn es noch eines Beweises beduft hätte, dass die Permakultur alles andere darstellt als eine Wünschelrutenwissenschaft: Voilà, hier ist er. Spätestens beim zweiten Glas ist man überzeugt, dass Paradiese nicht unbetretbar sein müssen, um schön zu bleiben. In La Clochette, wo so vieles in Einklang steht, geht auch das zusammen.

https://www.clochette-chateau.fr

Wolf Alexander Hanisch arbeitet als freier Autor in Köln und schreibt unter anderem seit vielen Jahren für die Wochenzeitung DIE ZEIT. Die Bilder stammen von Olaf Krüger, Fotojournalist und Mitgründer von Welt & Wir.

 

 

 

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