Aus dem Leben einer Eisbären-Familie

Auf Spitzbergen, dieser Inselgruppe zwischen Nordnorwegen und dem Nordpol, gibt es eine der nördlichsten Eisbärenpopulationen der Welt. Auf diesen hocharktischen Inseln zu überleben ist selbst für Eisbären eine Herausforderung: Nackter Fels und Gletscher dominieren das Landschaftsbild, es gibt kaum Vegetation und an Land generell wenig Nahrung. Die Quelle des Lebens ist hier oben das Meereis, also der geforenen Ozean. Unter dem Eis wachsen Algen, von denen sich Plankton ernährt, von dem widerum leben dann Fische – und die Robben, welche ja das Beutetier der Eisbären sind.

Seit mittlerweile acht Jahren arbeite ich immer wieder als Guide auf Expeditionsschiffen: und habe so mehrere hundert Eisbären in freier Wildbahn erleben dürfen. Die meisten Bären waren nur gelbe Punkte im Fernglas, aber manche von ihnen kamen bis auf wenige Meter an uns Menschen heran. Meine Hauptaufgabe als Guide ist es, für die Sicherheit von Mensch und Bär zu sorgen: und genau deswegen meiden wir Guides Begegnungen mit Bären an Land. Sobald wir bei einem Landgang einen Eisbären sehen, brechen wir die Wanderung ab und bringen die Gäste zurück zum Schiff bzw. steigen in Schlauchboote um. Die allermeisten Eisbärenfotos entstehen daher vom Boot aus: der Bär kann uns Menschen dann nicht erreichen, und ich muss keine Angst haben, dass es zu Zwischenfällen kommt, bei der Bär oder Mensch Schaden nehmen würden.

Ich empfinde einen tiefen Respekt vor diesen weißen Bären und dazu eine unbändige Neugierde, mehr über sie zu lernen. Eine sehr interessante Begegnung hatte ich letzten Sommer mit einer Bärenmutter und ihren zwei etwa achtmonatigen Jungtieren. Eisbärenmütter säugen ihre Jungen etwa zweieinhalb Jahre lang, und je älter die Jungen werden, desto mutiger werden sowohl sie als auch die Mutter.

Im ersten Lebensjahr allerdings, wenn die Kleinen noch ziemlich hilflos und nicht ganz so schnell sind, verhalten sich Mütter oft sehr vorsichtig und nähern sich uns Menschen nur ungern. Daher kommt es, dass man junge Bären meist nur aus großer Distanz sehen kann – wenn überhaupt, denn so oft sieht man Bärennachwuchs ja leider gar nicht.

Fast jedes Jahr gibt es weniger Meereis in der Arktis, und ich behaupte, dass damit auch die Anzahl der erwachsenen Jungbären zurückgeht. Während die männlichen Eisbären das ganze Jahr auf dem gefrorenen Meer bleiben können, wo es immer noch genügend Robben für sie gibt und sie eigentlich immer gut in Form sind, wandern die Weibchen zum Gebären der Jungen an Land. Wenn dann im Frühsommer ihre Jungen stark genug sind, um sie auf’s Meereis zu begleiten, ist das in den heutigen Zeiten der Klimakrise oft zu weit entfernt. Die Weibchen und ihre Jungen stecken also an Land fest und haben dort riesige Probleme, genügend Nahrung für sich und ihren Nachwuchs zu finden.

Der Sommer ist für Eisbären traditionell eine Zeit des Fastens: wer an Land festsitzt und das Packeis nicht mehr riechen kann, der spart Energie und wartet darauf, dass das Eis zurückkommt, und mit ihm die Chance, Robben zu jagen. Dünne Tiere und Eisbärenmütter mit immerhungrigen Jungtieren haben diese Option aber nicht; sie müssen viel fressen, und begeben sich deshalb aktiv auf Nahrungssuche. Das heißt: sie laufen die Küste Spitzbergens entlang und suchen nach allem, was irgendwie fressbar sein könnte. Je dünner der Bär, desto kompromissbereiter wird er, was Nahrung angeht: teilweise fressen sie sogar Gras oder Seetang.

Weil diese sommerliche Fastenzeit jetzt in den Zeiten des Klimawandels immer länger wird, beginnen viele Eisbären damit, sich alternative Nahrungsquellen zu erschließen: und dazu gehören Vogelkolonien. Wissenschaftler berichten, dass Bären mittlerweile ganze Jahrgänge zunichte machen, weil sie ein Nest nach dem anderen plündern. Besonders davon betroffen sind Eiderenten, Gänse und – wie in diesem Falle – Küstenseeschwalben.

Besagte Eisbärenmutter mit ihren beiden etwa acht Monate alten Jungtieren war auf eine kleine Insel geschwommen, die in einem Fjord in Nord-Spitzbergen liegt. Auf diesem etwa 50 Meter breiten Eiland, das vor allem aus nacktem Stein bestand, brüteten mehrere Dutzend Paare der kleinen, agressiven Küstenseeschwalbe. Deren Küken waren jetzt im Spätsommer schon recht groß, konnten aber noch nicht fliegen. Und genau das nutzte die Eisbärenmutter aus: sie tigerte rastlos über die Insel und fraß alle Küstenseeschwalbenküken, die sie finden konnte.
Und das waren eine Menge!

Die gesamte Kolonie befand sich in grenzenloser Panik. Dutzende von erwachsenen Vögeln attackierten die Bären mit ihren spitzen Schnäbeln, flogen wild kreischend umher und griffen sogar uns Menschen in den Schlauchbooten an. Warum dem so war, erkannten wir schnell: um den Bären zu entkommen, hatten sich viele Küken ins Wasser geflüchtet! Mir war bis dato nicht klar gewesen, dass diese fluffigen Küstenseeschwalbenküken schwimmen können. Aber klar: alles ist besser, als gefressen zu werden! Und so paddelten dutzende Flauschbälle ungelenk und sichtbar ungerne im küstennahen Wasser, immer begleitet von lamentierenden Elternvögeln. Och jöööööö…

Die beiden Jungbären folgten ihrer Mutter auf Schritt und Tritt und lernten von ihr, wie man Küken verspeist. Sie fanden aber auch uns Menschen wahnsinnig interessant: es war vermutlich das erste Mal, dass ihnen Menschen so begegneten, dass sie uns mit allen Sinnen gut wahrnehmen konnten. Wir, die wir still in den Gummibooten vor der Insel dümpelten und wie wild Klicklaute von uns gaben, waren den Jungbären suspekt und gleichzeitig ungemein faszinierend – zumindest solange Mama in der Nähe war. Ohne Mama ging nichts!

Im obigen Foto kann man übrigens Knöpfe in den Ohren der Bärenjungen erkennen: ein Zeichen, dass sie bereits von Wissenschaftlern betäubt und „erfasst“ worden waren. Norwegen steckt eine Menge Geld in sein invasives Eisbärenforschungsprogramm, so dass man immer seltener Tiere sieht, die noch keinen Menschenkontakt hatten. Die Knöpfe im Ohr enthalten kleine Sensoren, deren Daten man erst auswerten kann, wenn die Tiere irgendwann wieder von Helikoptern betäubt werden. Andere Eisbären tragen enge, schwere Halsbänder, die aktiv deren Position verraten. Es ist eine sehr invasive Forschung, die für die Tiere generell unangenehm und mittlerweile auch nicht mehr wirklich notwendig ist – schließlich lernen wir aus den Daten nichts wirklich Neues mehr…

Unsere Eisbärenmutter war dennoch sehr relaxt: sie war sich der Anwesenheit von uns Nichtwissenschaftlern sehr bewusst, störte sich aber nicht an uns, solange wir einen respektvollen Abstand einhielten. Und irgendwann war sie dann satt oder schien begriffen zu haben, dass es auf der Insel erstmal nichts mehr zu holen gab. Deshalb ging sie ins Wasser und versuchte, ihre beiden Jungen dazu zu überreden, mit ihr ans Ufer der Hauptinsel Spitzbergen zu schwimmen.
Einziges Problem: die Kleinen hatten keine Lust ihr zu folgen und verweigerten die Zusammenarbeit! Das ist mir schon öfters aufgefallen: Eisbären sind zwar sehr gute Schwimmer (die an den Vorderfüßen auch Schimmhäute besitzen), aber dennoch scheuen die ganz jungen Bärenkinder das Wasser, wann immer sie können. Vermutlich, weil sie noch nicht ganz so gut isoliert oder abgehärtet sind, wie ein ausgewachsener Bär…
Allerdings konnten sie sich zieren, wie sie wollten: die Bärenmutter kam zwar einmal zurück, im Versuch, sie geduldig ins Wasser zu locken, aber als auch das nicht half, schwamm sie einfach davon. Als die Kleinen begriffen, dass es iher Mutter ernst war, blieb ihnen nichts anderes übrig, als auch reinzuhopsen ins etwa 4°C kalte Nass. Begeisterung sah anders aus – aber wer kann’s ihnen verübeln bei den arktischen Temperaturen…?

Über weitere Geschichten aus der hohen Arktis berichten Olaf Krüger und ich in unserem gemeinsamen Vortrag „Inseln des Nordens“, der diesen Winter nach einer zweijährigen Pause wieder auf (Süd-)Deutschlandtournee gehen wird. Wer neugierig geworden ist findet weitere Infos und Termine auf der Webseite www.inselndesnordens.de !

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