Corona in Island
Nach einem Winter voller Vorträge und Klima-Aktivismus wollte ich Anfang März nach langer Zeit endlich einmal wieder zurückkehren in meine zweite Heimat, nach Island. Bahn- und Fährtickets waren längst gebucht, als im Januar plötzlich dieses neue Virus in China grassierte. Mir ging es, wie wohl den meisten: interessiert, aber noch nicht wirklich besorgt blickte ich nach Asien und fragte mich, was das wohl bedeuten würde, für uns und den kommenden Sommer.
Jetzt, mehrere Monate später, ist unser aller Leben auf den Kopf gestellt worden. Viele von uns haben oder hatten existenzielle Sorgen: um ihre eigene Gesundheit oder die ihrer Lieben, und natürlich auch wegen der finanziellen Auswirkungen dieser nie dagewesenen Situation. Auch ich könnte dazugehören, schließlich arbeite ich ja zeitweise im Tourismus, der weltweit fast komplett zum Erliegen gekommen ist. Viele meiner Kollegen stehen ohne Job da und sorgen sich um ihren Verbleib. Für uns international agierende Freiberufler kommt keiner auf, da greift kein Hilfspaket. Reiseleiter zu sein ist zwar nach außen hin ein spannender Job, aber finanziell ein total unsicherer.
In meinem Fall aber hat sich, wieder einmal, gezeigt, dass ich ein ungewöhnliches Talent habe: nämlich, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein, bzw. die richtigen Dinge zu tun. Die plötzliche Arbeitslosigkeit trifft mich gar nicht, denn: ich hatte das Jahr 2020 so geplant, dass ich mit minimalen Ausgaben monatelang gut über die Runden kommen werde. Geldsorgen habe ich erstmals keine, und Zukunftssorgen eher wegen des Klimawandels und des Zustands unserer Welt, nicht aber wegen dieses Virus. In der Art und Weise, wie wir unsere Natur zugrunde wirtschaften, während unsere Bevölkerungszahlen stetig steigen, war es für mich ehrlich gesagt nur eine Frage der Zeit, bis auch wir in der westlichen Welt einmal mit einer Pandemie konfrontiert werden würden. Die momentanen Entwicklungen beobachte ich daher mit wissenschaftlichem und gleichzeitig hoffnungsvollem Interesse. Ich bin sehr neugierig über die Weichen, die in Folge dieses interessanten Ereignisses in unserer Gesellschaft neu gestellt werden können – also potentiell, mal gucken, was da noch auf uns zukommt. Ich will hier keinesfalls die Negativseiten dieser Pandemie schönreden, gar nicht, aber: mein Glas ist generell halbvoll!
Als es in Italien und Österreich gerade die ersten Lockdowns wegen des Coronavirus gab, befand ich mich an Bord der vorerst letzten Fähre, die Passagiere nach Island brachte. Flugreisen versuche ich aus Klimaschutzgründen zu vermeiden, und wählte deshalb diese Autofähre, welche die Lebensader der Färinger ist. Die ‚Norröna‘ transportiert wöchentlich Containerladungen voller Essen und Waren auf die Färöerinseln, und von dort (bzw. von Island aus) Fisch zurück nach Dänemark. Und nebenbei werden Passagiere mitgenommen. Wegen der beginnenden Pandemie beschloss man, uns wenigen Passagieren Einzelkabinen zu geben, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Mein Grinsen hättet ihr sehen sollen, als ich das erfahren habe. Mit dem günstigsten Ticket bekam ich eine Einzelkabine auf der Norröna – oh yeah, ein Hoch auf das Coronavirus!
So kommt es also, dass ich mich seit Mitte März in Island aufhalte, das sich mir in den ersten Wochen als ein wahres Winterwunderland präsentierte.
Die Bewohner dieser kleinen Insel im Nordatlantik sind den neuesten Technologien sehr aufgeschlossen: so haben zum Beispiel weit über die Hälfte der Bevölkerung ihr Genom entschlüsseln lassen. Reykjavík verfügt über mehrere extrem moderne Labore, in denen (Gen-)Tests durchgeführt werden können: da sollte es nicht überraschen, dass Island eines der ersten Länder Europas war, welche das Coronavirus bei sich feststellten. Island stufte Ischgl als Hochrisikogebiet ein, noch bevor die Tiroler begriffen, was in dem Skigebiet eigentlich los war!
Trotz (oder gerade wegen?) seiner isolierten Lage hatten viele Isländer von Anfang an eine Heidenpanik vor dem Coronavirus. Auf der kleinen Insel leben zwar gerade einmal 365.000 Einwohner, die meisten davon in der Hauptstadtregion bei Reykjavík – allerdings gab es hier zu Beginn der Pandemie auch nur 30 Beatmungsgeräte. Man kann Kranke hier nicht irgendwohin auslagern: 30 Intensivbetten müssen für die ganze Nation reichen. Also wurde, konsequenter und früher als in Deutschland, auf ‚Social Distancing‘ und zudem auf digitale Kontrolle gesetzt. Über die Hälfte der Isländer luden sich sofort eine App auf ihre Smartphones, die aufzeichnet, wo man sich aufhält. Sollte man erkranken, kann so zurückverfolgt werden, mit wem man in den Tagen zuvor Kontakt hatte. Es ist die beste und schnellste Möglichkeit, Menschen noch vor den ersten Erkrankungs-Anzeichen zu informieren und in Quarantäne zu schicken. Klar kann (und sollte) man das auch kritisch betrachten, denn solch eine App ist ein Traum für einen Überwachungsstaat. Viele Isländer sehen das Ganze aber erstaunlich locker: wahrscheinlich, weil sie von Anfang an mit viel weniger Anonymität aufwachsen, als wir. Bei der Geburt bekommt man eine staatliche Registrierungsnummer, und die muss man bei allem angeben: will man SIM-Karte, Computer oder Radio kaufen, wird diese Nummer verlangt, und dann wird so ziemlich automatisch gleich die Rundfunkanstalt informiert. So etwas wie einen Fernseher kaufen und sich um die Rundfunkgebühren drücken, geht hier also gar nicht.
Diese fehlende Anonymität zeigt sich auch andernorts. Jeder kennt hier jeden, und schon allein deswegen trauen viele sich nicht, grobe gesellschaftliche Regeln zu überschreiten. Wenn also in der Zeitung steht, dass es in der so-und-so-Schule einen Corona-Fall gab, und ALLE Lehrer und Schüler in zweiwöchige Isolation geschickt werden, dann wird man diese Leute garantiert nicht in Bars oder auf Parties antreffen – eben weil alle wissen, dass sie in Isolation zu sein haben. Und auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, weil man sich wegen der Maßnahmen in seiner Freiheit beraubt fühlt oder an Zwangsimpfungen von Bill Gates glaubt, das käme hier in Island nie in Frage! Ich denke, das würde hier garantiert als total asozial empfunden werden. In der Coronakrise zeigt sich wieder einmal, dass Island seinen Fokus seit eh und je auf die Gemeinschaft und das Stützen der Schwachen legt – nicht etwa auf das Verherrlichen von Leistung und Egoismus, wie das in vielen Ländern der westlichen Welt mittlerweile gang und gäbe zu sein scheint.
Ebenfalls anders war hier, dass Virus-Tests von Anfang an kostenlos für alle zur Verfügung standen. Man wurde (und wird weiterhin!) regelrecht aufgefordert, sich zu einem Test anzumelden, ganz egal, ob man Anzeichen der Krankheit hat, oder nicht. So kam auch ich in den „Genuss“ des Tests – ich war neugierig und wollte wissen, wie das abläuft. Schön gesittet standen wir Schlange, immer zwei Meter voneinander entfernt, bis ich in eines der vielen Büros gerufen wurde. Es folgte eine kurze Befragung, bevor mir jemand mit einem überlangen Wattestäbchen erst tief in meiner Nase herum stocherte (unangenehm) und dann mit einem anderen im Hals (bah!). Schon fünf Stunden später konnte ich das Ergebnis online einsehen: wie erwartet war ich nicht infiziert, aber um eine Erfahrung reicher.
Der Lockdown fiel hier in Island um einiges harmloser aus, als in Deutschland oder gar anderen Ländern. Wenn man nicht in Isolation oder Quarantäne ist, darf man raus, auch mit anderen zusammen, um an der frischen Luft Sport zu treiben oder einfach nur unterwegs zu sein. So kommt es, dass ich im April Island per Ski von Süd nach Nord durchquerte, und später mit Freunden zusammen auf mehreren Tagestouren in der fantastischen Isländischen Natur unterwegs war: denn da draußen gibt es ja zum Glück keinen Virus!
Masken tragen hier übrigens nur diejenigen, die mit (potentiell) Erkrankten zu tun haben, denn im Rest des Landes kann die Zwei-Meter-Regel eigentlich überall eingehalten werden. Geschlossen wurden Altenheime und Pflegeeinrichtungen, alle Freizeit-Gruppenveranstaltungen, sowie Sportstätten, Kinos und Theater. Die weiterführenden Schulen und Unis stiegen auf digitalen Unterricht um und verringerten die jetzt im Mai anstehenden Prüfungen. Selbst der Musikunterricht findet digital statt! Die Isländer sind, was das angeht, wirklich vernetzter und moderner als wir Deutschen, und das zahlt sich jetzt aus.
Was das Thema Coronavirus und Kinder angeht, gehen die Isländer einen ganz anderen Weg, als der Rest der Welt. Weil jede Infektion zurückverfolgt werden kann, wissen wir, dass es hier keinen einzigen Fall gab, bei dem ein Erwachsener von einem Kind angesteckt wurde. Es ist total erstaunlich, aber wahr: und deswegen blieben alle Kindergärten und die Schulen bis zum zehnten Schuljahr selbst im schlimmsten Lockdown offen – wenn auch unter Auflagen.
Wegen all dieser Maßnahmen, zu der auch die 14-tägige „Zwangs-Quarantäne“ von Neuankömmlingen zählt, hat Island den Virus ziemlich schnell wieder unter Kontrolle bekommen. In der letzten Woche gab es täglich nur noch 0 bis 2 Neuinfektionen. Bisher starben insgesamt 10 Menschen, 1804 erkrankten am Virus, 3 sind es momentan noch. Und insgesamt wurden 58.844 Corona-Tests durchgeführt – eine Wahnsinnszahl.
Und jetzt hält wieder so etwas wie Normalität Einzug auf dieser kleinen Insel am Polarkreis. Das Versammlungsverbot ist vor ein paar Tagen von 20 auf 50 Personen gehoben worden. Geschäfte und Sportstätten sind wieder offen, und mittlerweile haben alle Schulen ihren Regelbetrieb wieder aufgenommen – zumindest bis zu den sehr bald anstehenden, langen Sommerferien.
In einer Branche herrscht aber weiterhin Grabesstimmung: und zwar im Tourismus. Er ist eines der größten wirtschaftlichen Standbeine des Landes, und wegen Corona komplett zum Erliegen gekommen. Das Ausbleiben der Devisen wird viele Isländer hart treffen; bereits jetzt haben Tausende ihren Job verloren. So gut wie alle Firmen, die irgendwie im Tourismus oder Menschentransport arbeiten, haben massenweise Mitarbeiter entlassen, die Arbeitslosenquote ist gerade hoch wie nie.
Aber es gibt auch eine gute Seite: viele Isländer freuen sich darauf, diesen Sommer ihr Land zu bereisen, ohne dabei überall auf Massen von Ausländern zu stoßen. Und der empfindlichen arktischen Natur wird es verdammt gut tun, mal einen Sommer lang nicht kaputt getrampelt zu werden! Wie viel weniger CO2 ausgestoßen werden wird, weil kaum noch geflogen bzw. gefahren wird, darauf bin ich auch total gespannt!
Ab dem 15. Juni wollen die Isländer ihr Land übrigens wieder öffnen, erst einmal nur für Europäer. Die Voraussetzung ist allerdings, dass man entweder freiwillig für 14 Tage in Quarantäne geht, oder direkt bei der Ankunft in Island einen Virustest macht (was vermutlich um die 300€ pro Person kosten könnte – das steht aber so ganz genau noch nicht wirklich fest…). Wir sind hier jedenfalls alle gespannt bis skeptisch, ob bzw. in welchem Maße die Viruszahlen dann wieder ansteigen werden. Momentan aber ist Island nämlich (fast) wieder eine coronavirusfreie Zone: und ich kann dankbar sagen, definitiv zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen zu sein! Mittlerweile habe ich hier sogar einen Sommerjob gefunden, der es mir ermöglicht, noch mehrere Monate in diesem teuersten Land Europas zu bleiben. Und wenn ich im Winter dann wieder die Reise mit der Norröna antreten werde, bin ich ehrlich neugierig, in was für ein Deutschland ich dann wohl zurückkehren werde…
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