Riesensturmvögel – Die Drachen der Antarktis

Südgeorgien ist für Viele ein weißer Fleck auf der Landkarte. Diese 170 Kilometer lange Insel liegt zwischen der Antarktis und Südamerika und ist ein Ort der Extravaganz: es gibt hier so unglaublich viele Tiere, dass man sich regelrecht erschlagen fühlt von all den Eindrücken, die auf einen einstürmen. Die wenigen Besucher der Expeditions-Kreuzfahrtschiffe konzentrieren sich meist auf die Zehntausenden von Pinguinen und Robben, welche die Strände bevölkern. Ich jedoch lernte in meinen 12 Monaten auf dieser entlegenen Insel eine Tierart kennen und lieben, die dem Rest der Welt so gut wie unbekannt ist: den Riesensturmvogel, auf Englisch ‚Giant Petrel‘. Wir hier auf der Insel nennen ihn aber schlichtweg GP (‚Dschii-pii‘) oder ‚Geep‘ (Dschiip, wie ‚Jeep‘).

Riesensturmvögel sind entfernt mit den Albatrossen verwandt: es sind Röhrennasen, deren eigentümlicher Schnabel so aussieht, als sei er aus mehreren Hornstücken zusammengepuzzelt. Obendrauf sitzen die Nasenlöcher als eine Doppelröhre, die dazu dient, das Salz aus dem beim Trinken aufgenommenen Meerwasser auszuscheiden. Diese Entsalzungsanlage (die alle Röhrennasen haben, also auch die Albatrosse) ermöglicht es ihnen, ihr Leben komplett auf See zu verbringen. An Land kommen sie daher eigentlich nur, um zu brüten – ansonsten trifft man sie auf dem offenen Meer an, dem stürmischen Südpolarmeer, wo sie steif aber elegant mit sehr wenig Flügelschlägen über den Wellen segeln.
Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei den Riesensturmvögeln um ziemlich große Tiere. Ihre europäischen Verwandten, die Eissturmvögel, wirken wie Zwerge im Angesicht dieser größten aller Sturmvögel: sie weisen eine Körperlänge von teils über 90 cm auf und eine Flügelspannweite von über zwei Metern. Allein der Schnabel kann 12 cm lang sein und ihre mit Schwimmhäuten bestückten Füße haben locker die Größe einer menschlichen Hand.

Auf hoher See ernähren sie sich die GPs von allem, was auf bzw. dicht unter der Wasseroberfläche treibt: Krill, Tintenfisch, Abfälle der Fischerei und sonstiges Totes. Wenn aber im Sommer die Robben ihre Jungen bekommen, macht es für sie viel mehr Sinn, die Strände zu patrouillieren. Dabei sind gerade die älteren Männchen sie nicht nur reine Aasfresser, sondern ziemlich skrupellose Jäger, die ganz gezielt einzelne Tiere anvisieren und töten.

Was für manche Menschen brutal erscheinen mag, ist der Lauf des Lebens in der Natur. Es gibt in der Antarktis keine Landraubtiere und auch keine Greifvögel. Damit fehlt die ‚Gesundheitspolizei‘, also jene Instanz, welche die Schwachen und Kranken aussortiert und die Kolonien von Kadavern befreit. Genau diese Aufgabe haben hier die Riesensturmvögel übernommen. Ihre Jagdstrategie ist so dreist wie einfach: sie gehen zu ihrer potentiellen Nahrungsquelle und versuchen, ihr die Augen auszuhacken, was vermutlich zum ziemlich sofortigen Tod führt (‚vermutlich‘, weil ich’s noch nie beobachtet habe).Wenn die Taktik des „Ich hacke dir mal eben schnell die Augen aus“ nicht klappt, sie aber jemanden gefunden haben, der sich nicht genügend wehrt, dann versuchen es die Vögel manchmal mit reiner Kraft. Sie verbeißen sich in Federkleid oder Fell fest und reißen so lange an ihrem Opfer herum, bis sie Zugang zu Fett und Fleisch haben. Kurzum: sie hacken Löcher in andere Tiere hinein und beginnen mit dem Ausweiden, wenn es noch lebt.

Ein GP mit einem knapp 10 Tage alten Seebärenjungen

Der Kampf zwischen Jäger und Gejagten kann Stunden dauern: dem beizuwohnen, ist harter Tobak… Ist ihr Gegenspieler dann endlich tot, sind die Riesensturmvögel erstaunlich effizient darin, den Kadaver zu leeren und einmal komplett umzukrempeln. Dass Tiere ohne Krallen bzw. Hände mit ’nur‘ einem Schnabel so etwas zustande bringen können, ist absolut erstaunlich! Auf diese Art und Weise sind sie in der Lage, See-Elefantenbabys und selbst erwachsene Königspinguine zu töten, also Tiere, die mindestens doppelt so groß und um ein Vielfaches schwerer sind, als sie selbst – und das ohne Krallen, dafür aber mit einem einem spitzen, kräftigen Schnabel und einer Menge Dreistigkeit und Kraft. Hartnäckig und ausdauernd sind sie auch: haben sie einmal mit dem Angriff begonnen, dann sind sie davon kaum mehr abzubringen. Nie zuvor ist mir ein Vogel begegnet, der so echsenhaft vom Charakter ist, so unglaublig ‚anders‘ und urig. Die GPs sind für mich der klare Beweis, dass Vögel von Dinosauriern abstammen!

Am faszinierensten ist es, Riesensturmvögel an einem Kadaver zu beobachten. Gibt es nämlich irgendwo ein totes Tier, dann wissen relativ bald alle GPs der Umgebung davon, und dann beginnt der Streit ums Fressen. Jetzt zeigen sie, wie komplett anders vom Verhalten sie sind als alle mir bekannten Vögel. Um sich gegenseitig einzuschüchtern, breiten sie die Flügel aus und spreizen die Federn an Hals und Rücken: sie wollen so groß wirken, wie möglich.

Die ganz dominanten Tiere werfen ihren Kopf von links nach rechts, während sie einen krächzenden Ruf ausstoßen, der wie eine Mischung aus Pferdewiehern und Katzengejammer klingt und perfekt zu ihnen passt: ja, so könnten Dinosaurier klingen! Zu guter Letzt klappen die Streithähne dann noch ihren Schwanz nach oben und stolzieren herum, wie entfernte Verwandte des Auerhahns – es ist absurd-faszinierend! Wenn das ganze Geprolle und Gehabe nicht hilft und der Konkurrent immer noch ans Fressen heran will, dann wird gekämpft. Die beiden Streithähne laufen aufeinander zu und verbeißen sich ineinander, während sie wild wiehernd und hoch aufgerichtet zeigen, wer der Stärkere ist. Spätestens bei dem Anblick besteht absolut kein Zweifel mehr: Velociraptoren haben überlebt! Sie sind nur kleiner geworden, haben ein Federkleid bekommen und ihre Krallen durch Schwimmhäute eingetauscht.

Ein kleiner Einwurf komplett am Thema vorbei, aber zu interessant um es nicht zu erwähnen. Kennt ihr Velociraptoren, diese bekannten Raubsaurier mit den scharfen Krallen, welche in den ‚Jurassic Park‘-Filmen als 2 Meter große, 80 kg schwere Killer dargestellt werden? Hollywood übertreibt immer alles maßlos: Velociraptoren waren in Wirklichkeit nur so groß und schwer, wie ein Truthahn! Damit waren sie aber immer noch um einiges höher und schwerer als die Riesensturmvögel…

Viel zu selten geschieht es, dass man Zeuge einer solchen ‚Geepparty‘ wird, wie wir so ein Fressgelage nennen. Nur dann agieren die Vögel miteinander, nur dann zeigen sie dieses faszinierende Spektrum an Verhaltensweisen. Normalerweise sind es nämlich scheue, zurückhaltende Einzelgänger, die irgendwo am Strand sitzen und schlafen bzw. die Umgebung beobachten – still und unscheinbar, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Doch ich werde sie nie wieder unterschätzen, diese gefiederten Raubsaurier – diese Drachen der Antarktis!

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