Schneller als der Sandaal

Island besitzt magische Anziehungskraft und seit März 2021 wieder einen aktiven Vulkan. WELT & WIR-Gründer Olaf Krüger war mit seiner Familie auf der Nordmeerinsel unterwegs und hatte reichlich Grund zum Staunen.

Wie ein überdimensionierter Wal pflügt die Norröna durch das Nordmeer. Die Gischt klatscht gegen die Scheiben der Fähre während wir träge und wie in Zeitlupe durch Wellentäler und über Wellenberge gleiten. Dutzende Eissturmvögel eskortieren das Schiff in ihrer unnachahmlichen lässigen Eleganz. Kaum wahrnehmbar durchschneiden ihre Flügel immer wieder für Sekundenbruchteile die Wasseroberfläche. Virtuos spielen sie mit den Elementen Wasser, Luft und Wind.

Zusammen mit meiner Frau Tine und meinen Kindern Matta und Pelle bin ich auf dem Weg nach Island. Hinter uns verschwinden die Färöer-Inseln langsam im Dunst und mit ihnen Risin og Kellingin (färöisch: „Der Riese und das Weib“), zwei gewaltige Brandungspfeiler, die nur noch schemenhaft zu erkennen sind. Der Legende nach sind es übereifrige Trolle, die einst versuchten, die Färöer-Inseln nach Island abzuschleppen und dabei den Sonnenaufgang vergaßen und versteinerten. Schon seit Urzeiten regt die Natur des Nordens die menschliche Fantasie an. Auf Abraham Ortelius berühmter Islandia-Karte lauern furchteinflössende Seeungeheuer den Schiffen in den Meeren um Island auf. In den Isländersagas begegnen wir Werwölfen, Hexen und Geistern und wer einmal am Abend durch ein altes Lavafeld gewandert ist weiß, dass die gezackten Silhouetten unterschiedlichste Gestalt annehmen und unsere Vorstellungskraft beflügeln können.

 

 

Wenn Justin Bieber im Canyon tanzt

Jahr für Jahr zieht es mich in den Norden Europas, bevorzugt nach Island und auf die Färöer-Inseln. Island verbinde ich mit weiten Horizonten, Urlandschaften, Stille und unberührter Natur, sowie mit eigenwilligen, höchst kreativen Menschen und einer faszinierenden Geschichte, die weit über 1000 Jahre zurückreicht – bis zum ersten norwegischen Siedler Ingólfur Arnarson, der sich mit seiner Gefolgschaft um das Jahr 874 auf der bis dahin fast unberührten Insel niederließ. Heute leben etwa 360.000 Menschen auf dem sagenumwobenen Eiland im Nordatlantik. Dazu gesellen sich Jahr für Jahr etwa zwei Millionen Touristen. Seit ein paar Jahren verfolge ich, wie der ungebremste Massentourismus viele Isländer und vor allem auch die Natur verändert. Wie in einem nordischen Disneyland drängen sich zu allen Jahreszeiten Tausende vor den Naturwundern der Nordmeerinsel. Die isländische Tourismusministerin predigt Wachstum während die fragile Natur des Nordens zunehmend unter Druck gerät. Der Besucherandrang hinterlässt Spuren und es kommt vor, dass eine über Social Media angepriesene Sehenswürdigkeit dank Geotagging innerhalb kürzester Zeit buchstäblich kaputt getrampelt wird. Vor ein paar Jahren nahm Justin Bieber im Fjadrárgljúfur-Canyon in Südisland ein Musikvideo auf. In einer durch und durch vernetzten Welt war das fast das Todesurteil für dieses Kleinod. Der Canyon musste wegen Erosion und Vermüllung gesperrt werden.

 

 

Island avancierte in kürzester Zeit vom Geheimtipp für Nordland-Enthusiasten zum Lieblingsziel der Reiseindustrie. Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull 2010 und die Serie Game of Thrones mit dem isländischen Schauspieler und Kraftsportler Hafþór Júlíus Björnsson weckten die kleine Insel endgültig aus ihrem Dornröschenschlaf. Plötzlich wusste jeder, dass Island Besonderes zu bieten hat und Dank guter Infrastruktur einfach zu bereisen ist. Als dann auch noch Islands Fußballer mit ekstatischen Schlachtgesängen („Huh!“) und leidenschaftlichem Spiel zu internationalen Sympathieträgern wurden, gab es kein Halten mehr. Die geschäftstüchtigen Inselbewohner rieben sich die Hände und konnten ihr Glück kaum fassen, zumal ihnen die Wirtschaftskrise 2008 enorme Schuldenberge hinterlassen hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken werden in der Hochsaison € 600,00 und mehr für ein ganz normales Hotelzimmer aufgerufen – und offensichtlich auch bezahlt!

Wer wie ich das Land vor der großen Invasion kennenlernen durfte, versucht die Massen so gut es geht zu meiden. Meist genügt es, die Wanderschuhe zu schnüren und loszulaufen, weg vom Autokorso auf der Ringstraße und vom Golden Circle, hinein in die Einsamkeit des Hochlandes oder der Westfjorde. Ein paar Minuten zu Fuss und Island ist plötzlich wieder wie beseelt und von ergreifender Schönheit. Alle Zweifel sind dann wie weggewischt. Goethe hat es gewusst: „Nur wo Du zu Fuss warst, bist Du auch wirklich gewesen.“ Statt der Versuchung zu erliegen, Tag für Tag neue Ziele anzusteuern, wollen wir auch in diesem Jahr an wenigen Orten verweilen und immer wieder auf kleinen Wanderungen die isländische Natur erkunden.

 

 

Der Sprung des Buckelwals

Tiefblau spannt sich der Himmel über Seyðisfjörður. Es ist Anfang August als die Norröna den ostisländischen Fährhafen erreicht. Wie feiern die Ankunft in Island mit einem kurzen Stop bei unserem Lieblingsbäcker in Egilsstaðir, denn dort gibt’s die beste Vínabrauð (isländisch: „Wiener Brot“) auf der Insel. Das Plundergebäck macht süchtig und so fahren wir mit reichlich Zucker im Blut auf der Ringstraße Richtung Mývatn (isländisch: „Mückensee“), lassen das Geothermalgebiet Namafjall links linken und schlagen am späten Nachmittag in der kleinen Ortschaft Grenivík am Eyjafjörður unsere Zelte auf. In der Ferne erkenne ich die Insel Hrísey und sehe, ameisenklein, eine Armada von Motorbooten durch den Fjord flitzen, eine schneeweiße Gischtspur im Schlepptau. Sie bringen Touristen mit neongelben Schwimmwesten und roten Thermoanzügen zu den Buckelwalen vor der Küste. Diesen bis zu 30 Tonnen schweren Meeressäugern in einem kleinen Boot, quasi auf Augenhöhe, zu begegnen ist ein Island-Erlebnis der besonderen Art. Nie vergessen werde ich aber den Buckelwal, der sich vor ein paar Jahren in einer windstillen Mittsommernacht wie aus dem Nichts meterhoch aus dem Steingrimsfjörður katapultierte. Fassungslos stand ich am Ufer und konnte nicht glauben was sich da, nur wenige Meter entfernt, abspielte. Als wenig später die letzten Wellen verebbten und der Fjord wieder schweigend und glatt wie ein gebügeltes Tischtuch vor mir lag, schien der übermütige Sprung des Megaptera nur eine Sinnestäuschung gewesen zu sein. Island ist immer gut für eine Überraschung.

 

Von Herzampeln, Islandpferden und Eisschwimmern

Wir fahren den Eyjafjörður landeinwärts und kommen nach Akureyri. Winzige Segelboote tanzen übermütig auf dem glitzernden Fjord. Eine Kinderregatta vor den Toren der Stadt läutet das Wochenende ein. Unsere Kinder freuen sich an den Herzampeln, längst ein Markenzeichen von Akureyri. Da hält man doch gerne an und die Rotphase könnte ruhig länger dauern! Am frühen Nachmittag erreichen wir den Skagafjörður. Es ist ein bisschen wie nach Hause kommen, denn schon im Vorjahr waren wir hier auf dem Bauernhof Lýtingsstaðir zu Gast. Dort lebt seit 1995 Evelyn Kuhne mit ihrem isländischen Mann Sveinn.

 

 

Unsere pferdebegeisterte Tochter Matta fiebert der Woche bei Evelyn schon lange entgegen, denn in Lýtingsstaðir leben nicht nur Schafe und Hühner, sondern auch 100 Pferde. Mattas Schleich-Pferde tragen allesamt isländische Namen: Perla, Skima und Menja tölten durch ihr Kinderzimmer. Evelyns ganzer Stolz, ihr quirliger, hellwacher Islandspitz Sómi stürmt uns entgegen. Er ist Hütehund und bester Freund zugleich. Ein Energiebündel mit Charakter vor dem die Pferde großen Respekt haben. Wir beziehen eine der gemütlichen Hütten und Matta begrüßt ihre Lieblingspferde. Dabei strahlt sie selbst wie ein Honigkuchenpferd. Zum Abendessen gibt es isländischen Lammbraten mit Kartoffelbrei und heimischen Gewächshaus-Karotten. Wir sind endlich angekommen.

 

 

Die nächsten Tage vergehen wie im Flug. Matta ist glücklich und genießt die täglichen Ausritte in vollen Zügen. Es ist tagelang so warm und sonnig, dass wir am Sandstrand bei Sauðárkrókur sogar im Meer baden können – und das mit exklusivem Blick auf die schroffe Vogelinsel Drangey, die einer der bekanntesten Sagahelden, Grettir der Starke, einst schwimmend erreicht haben soll. Die Saga berichtet, dass er die sieben Kilometer durchs Nordmeer mehrfach zurücklegte, um Feuer vom Festland zu holen. Grettir ist sozusagen der Urvater aller Eisschwimmer und Vorbild für die wachsende Zahl unerschrockener isländischer Freiwasserschwimmer. In der Bucht von Nauthólsvík in Reykjavik sieht man sie auch bei Minustemperaturen trainieren. Krebsrot staken sie nach dem Bad an Land, um sich im heitur pottur, also im heißen Pott, langsam wieder aufzuwärmen. Vor ein paar Jahren habe ich dort die erste isländische Eismeile erlebt: 1600 Meter im offenen Meer bei 3,7 Grad Wassertemperatur galt es zu bewältigen. Kein Sport für Weicheier. Inzwischen kann ich die Euphorie, die Kaltwasserschwimmen auszulösen vermag, ansatzweise nachempfinden, denn ich habe den Selbstversuch gewagt! Allerdings bei lauschigen 12 Grad. Nach ein paar Minuten im kalten Ozean scheint sich der Körper mit der Schockbehandlung abzufinden. Es fühlt sich sogar gut an, das eiskalte Meer. Und das „Auftauen“ danach ist tatsächlich mit Hochgefühl verbunden. Noch Stunden später wird man von wohliger Wärme durchflutet.

 

Audienz bei Surtur

Allerdings kann es auf Island auch schnell mal zu heiß werden. Durchschnittlich alle drei bis vier Jahre werden die Isländer daran erinnert, dass sie auf einem Hotspot leben. Der Erdmantel ist dort besonders heiß, da Magma aus dem tiefen Erdinneren aufsteigt. Die Geschichte des Landes ist eng mit verheerenden Vulkanausbrüchen verknüpft. Immer wieder verbreitete Islands bekanntester Vulkan, die Hekla, Angst und Schrecken. Im Mittelalter war man überzeugt davon, dass dort der Eingang zur Hölle liegen müsse. Als von 1783 bis 1784 die Laki-Krater ausbrachen und sich giftige Gase über das Land legten, starben ein viertel aller Isländer und es gab ernsthafte Bestrebungen, die Insel komplett zu evakuieren. In Mitteleuropa und in Nordamerika kam es zu einem extrem kalten Winter. Unter dem Gletscher Mýrdalsjökull schlummert einer der gefährlichsten Island-Vulkane, die Katla, deren nächster Ausbruch längst überfällig ist und die Küstenstadt Vík bedroht. Aber die Isländer haben gelernt mit dem Feuer aus der Tiefe zu leben und so werden auch in Vík weiterhin munter Häuser und Hotels gebaut – als ob Katla ewig schlafen würde.

 

 

Seit meiner ersten Islandreise 2004 war es mein großer Traum, einen Ausbruch aus allernächster Nähe zu erleben. 2010 verpasste ich den Eyjafjallajökull. Im Herbst 2011 stand ich auf dem Fimmvörðuháls-Pass inmitten noch Wärme ausstrahlender Lavafelder und ruinierte den Sensor meiner Kamera mit Schwefeldämpfen. 2014 sah ich aus großer Entfernung den Feuerschein der Holuhraun-Eruption. Wie ein gewaltiger Schneidbrenner glühte sie am Horizont, während der Nachthimmel von tanzenden Nordlichter erhellt wurde. Ein surreales Naturschauspiel von zeitloser Schönheit, dass ich nie vergessen werde.

Anfang des Jahres erschüttert eine Serie von Erdbeben die Halbinsel Reykjanes. 800 Jahre war es dort ruhig gewesen. Für unser Empfinden eine lange Zeit, für den Feuerriesen Surtur nur ein Wimpernschlag. In den Geldingadalir, Tälern nahe der Hafenstadt Grindavík, beginnt am 19. März eine der touristenfreundlichsten Eruptionen der letzten Jahrzehnte. Wieder gerät Island in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Vulkan-Aficionados reiben sich die Hände. Der Ausbruch durchläuft verschiedene Phasen, jede für sich spannend und äußerst fotogen. Bis August 2021 besuchen 250.000 Menschen aus aller Welt Geldingadalir. Die Familien, denen das Land gehört bauen Parkplätze und legen Wege an. Plötzlich interessiert sich die ganze Welt für ihr Niemandsland!

 

 

Mitte August ist es auch für uns endlich soweit. Mein Traum geht in Erfüllung. Wir beziehen bei Freunden in Reykjavík Quartier und hoffen auf besseres Wetter, denn seit unserer Ankunft versteckt sich der Vulkan unter tiefhängenden Wolken. Es ist zum Haareraufen, denn bei klarer Sicht kann man vom Wohnzimmerfenster unserer Freunde mit dem Fernglas die Lavaströme beobachten! Erschwerend kommt hinzu, dass der Vulkan in eine neue Phase eingetreten ist und eher einem extrem langsamen Geysir gleicht, der einen halben Tag ruht, um dann wieder mit unverminderter Kraft, Lavasäulen in die Luft zu schleudern. Aber wir sind guter Dinge, denn eine absolute Expertin steht uns zur Seite: seit sie 2010 zu Füssen des Eyjafjallajökull ihr Zelt aufgeschlagen hat, ist Kerstin Langenberger vulkansüchtig. Über 50 Mal ist sie schon nach Geldingadalir gepilgert, hat Unglaubliches erlebt. Fast scheint es, als sei sie mit der „Vulkanin“ auf geheimnisvolle Weise verbunden. „Es muss eine Frau sein, so launisch wie sie ist!“ meint Kerstin augenzwinkernd und zappt sich einmal mehr durch Dutzende Internetseiten mit Live-Cams, Wetterdaten und geowissenschaftlichen Diagrammen. Vor mir auf dem Bildschirm sehe ich den Puls des Vulkans. Die Lava im Krater beginnt wieder anzusteigen. Wir beschließen trotz eher ernüchternder Wetterprognose, einen ersten Versuch zu wagen und werden belohnt. Durch dichten Nebel steigen wir auf, vorbei an erst kürzlich erkalteten, bizarr zerklüfteten Lavafeldern. Sie sind die Vorboten eines einzigartigen Naturschauspiels. Die Spannung steigt mit jedem Schritt. Unsere Kinder sind ungewohnt still. Nach einer guten Stunde Aufstieg hören wir hinter der Nebelwand ein Fauchen und tiefes Grummeln, dann sehen wir, wie glühende Fontänen aus dem Krater spritzen. Erst schemenhaft, aber wenig später wie zum Greifen nah! Ich kann es kaum glauben. Darauf war ich nicht vorbereitet. Glücksgefühle setzen Adrenalin frei. Worte versagen. Surtur gewährt uns eine Audienz. Wir blicken ins Innere unserer Erde.

 

 

Scheich-Besuch beim Vulkan-Woodstock

In den nächsten Tagen erleben wir Unglaubliches, nie Gesehenes. Lavaströme bewegen sich langsam auf uns zu, bereits abgekühlte Lava platzt erneut auf und gibt glutflüssige Zungen frei, die sich wie Teigfladen auf- und zusammenfalten. Manchmal sehen wir weiter entfernt orange glühende Sturzbäche die Hänge hinab jagen. Die Hitze direkt an der Lava springt mich an wie ein wütender Tiger. Unmittelbar und ohne Vorwarnung. Moose und Gräser flammen kurz auf, wenn die zähfließende Masse sie erreicht. Als ich die Augen schließe habe ich einen Flashback. Ich stehe auf einer stark befahrenen Kreuzung in New Delhi. Der Geruch nach verbranntem Asphalt ist durchdringend und penetrant.

Wie lästiges Ungeziefer kreisen unaufhörlich Drohnen über uns. An einem Abend lässt sich ein Scheich mit seiner Familie per Hubschrauber auf einem von Lava abgeschnittenen Hügel absetzen. Allein schreitet er in seinem weißen Gewand auf den Hauptkrater zu. Seine Entourage hält gebührenden Abstand. Eine Szene wie aus einem Science-Fiction-Film.

Unseren letzten Besuch statten wir Geldingadalir nachts ab. Die Wolken über dem Krater scheinen ebenfalls zu glühen und Dutzende Lavaströme spannen sich wie ein lebendiges Spinnennetz über die Hänge des Vulkans. In regelmäßigen Abständen erheben sich Vorhänge aus Feuer über dem Kraterrand, stehen für Sekundenbruchteile schwerelos am Himmel, fallen wieder in sich zusammen und werden dann vom Kratersee verschlungen. Auf einmal wird der Rand des Kraters brüchig und ein gewaltiger Lavastrom schießt gleißend hell aus dem jetzt durchlässigen Schmelztiegel in die Nacht.

Wie bei einem Vulkan-Woodstock feiern hunderte Besucher an den Hängen rund um die Ausbruchstelle ihre Begegnung mit den Urkräften der Erde. Wir haben für unsere Kinder Schlafsäcke und Isomatten mitgebracht und bereiten den beiden auf weichem Moos ein Nachtlager. Matta und Pelle schlafen seelenruhig. Wohlig wärmt das nur wenige Meter entfernte Lavafeld. Ein exklusiver Schlafplatz an den sie sich wohl noch lange erinnern werden. Dank Kerstins Vulkan-Expertise fühlen wir uns sicher. Der Wind hält giftigen Ausdünstungen des Vulkans von uns fern.

 

 

Das Pompeji des Nordens

Ein paar Tage später bringt uns die Fähre Herjólfur von Landeyjahöfn nach Heimaey auf die Westermännerinseln. Zum Glück dauert die Überfahrt nur eine gute halbe Stunde, denn starker Wind sorgt für unruhige See. Pelle und Matta sind beeindruckt. Routiniert steuert der Kapitän das Schiff in den grandiosen Naturhafen, der von einem Lavafeld im Süden und steil aufragenden Felswänden im Norden begrenzt wird. Eissturmvögel, Basstölpel und Papageitaucher wirbeln durch die Luft. Horizontal peitscht der Wind den Regen über die Insel. Zwischen den Schauern gibt es nur kurze Verschnaufpausen. Wir nutzen eine davon und bauen rasch unsere Zelte auf und stellen uns auf eine unruhige, feuchte Nacht ein.

Am nächsten Tag ist das Wetter etwas besser. Wir laufen durch die nassen Straßen Heimaeys und kommen an ein steil aufragendes Lavafeld unter dem ganze Straßenzüge begraben liegen. 1973 erwachte mitten in der Stadt der Vulkan Eldfell, der Feuerberg. Die Bewohner mussten hilflos mit ansehen, wie er ihre Häuser und Existenzen unter Asche und Lava begrub. Es ist ein beklemmendes Gefühl über dieses „Pompeji des Nordens“ zu wandern. Meterhoch türmt sich die Lava über den zerstörten Häusern. Der Vulkanausbruch drohte auch den Hafen, die Lebensader Heimaeys, zu verschließen und so pumpte man in der Hoffnung auf ein Wunder monatelang Meerwasser auf die herannahende Lava. Die Ausdauer wurde belohnt und die Abkühlung der Lavaströme gelang tatsächlich. Sie kamen zum Stillstand. Der Hafen war gerettet und sicherer als je zuvor. Aber wie ein Menetekel ragt der Eldfell 215 Meter über der Stadt auf. Noch immer ist die Erde dort so heißt, dass man einige Zentimeter unter der Oberfläche mühelos Brot backen kann. Die Vorstellung, dass das sich das, was ich vor ein paar Tagen in Geldingdalir aus sicherer Entfernung erleben und auch genießen durfte, mitten in einer Kleinstadt Bahn bricht, ist beängstigend. Wie haben die Bewohner Heimaeys dieses Trauma verarbeitet? Wie lebt es sich in direkter Nachbarschaft zu einem aktiven Vulkan?

 

Rettung für Bruchpiloten

Ich nutze eine weitere Regenpause und fotografiere junge Papageitaucher bei ihren Flugübungen über den steilen Klippen der Insel. Es ist ein gutes Jahr für die Lundis, deren Bestand stetig schrumpft, weil sich das Meer als Folge der Klimakrise auch rund um Island erwärmt und ihre Hauptnahrungsquelle, der Sandaal, in kühlere Gewässer abwandert.

 

 

In diesem Jahr gibt es, ganz gegen den traurigen Trend, reichlich Nachwuchs und es macht Freude, die putzigen Kerlchen mit den roten Schnäbeln in Aktion zu erleben. Ich lege mich mit der Kamera in einer Papageitaucher-Einflugschneisen auf die Lauer und versuche die vom Winde verwehten Puffin-Piloten beim Landeanflug zu erwischen. Gar nicht so einfach, weil sie sofort abdrehen, wenn sie mich entdecken und mit zerzaustem Gefieder im Nebel verschwinden! Neben mir steht ein Kreuz, das an einen abgestürzten Papageitaucher-Jäger erinnert. Die Vögel gelten als Delikatesse und wurden noch bis vor wenigen Jahren in großen Mengen gefangen.

Bald werden die Papageitaucher Island und die Westmännerinseln verlassen, um in südlicheren Breiten zu überwintern. Für die Bewohner Heimaeys, insbesondere für die Kinder, ist dieser Abschied ein besonderes Ereignis. Auf der Suche nach notgelandeten Papageitauchern sieht man nachts Groß und Klein mit Taschenlampen bewaffnet durch die Straßen der Stadt laufen. Die verängstigten Bruchpiloten werden in Pappkartons gesammelt und bei Tagesanbruch ans Meer gebracht. Am Morgen unserer Abreise von den Westmännerinseln werden wir Zeuge dieser schönen „Zeremonie“. Trotz skítaveður (isländisch: „Scheißwetter“) fährt Familie um Familie vor und lässt es sich nicht nehmen, die Jungvögel, begleitet von guten Wünschen, in die Freiheit zu entlassen! Immer in der Hoffnung, dass sie im nächsten Jahr nach Island zurückkehren und selbst für Nachwuchs sorgen werden.

 

 

Epilog

Als wir Anfang September auf der Norröna die Rückreise antreten wird mir klar, dass die Papageitaucher ein Symbol für die Verletzlichkeit der isländischen Natur sind. Sie leiden wie so viele Tiere und Pflanzen unter den Folgen menschlichen Handelns. Die Welt ist im Wandel. Immer mehr Menschen begreifen, dass ihre Lebensweise direkte Auswirkungen auf den Zustand unseres Planeten hat. Die Ressourcen sind begrenzt. Wir müssen lernen, uns zu beschränken, sonst zerstören wir unwiederbringlich, was wir lieben. Und so bin ich hin- und hergerissen zwischen meiner Leidenschaftlich für Island und der Einsicht, dass ich als Fotojournalist und Buchautor unweigerlich zum Reisen animiere. Mir bleibt eigentlich nur, den Beruf zu wechseln oder immer wieder eindringlich dafür zu appellieren, achtsam unterwegs zu sein, um möglichst keine Spuren zu hinterlassen. Damit die einzigartige isländische Natur auch die nächsten Generationen noch ins Staunen versetzen kann.

Apropos Staunen: da kommt mir die kleine Küstenseeschwalbe in den Sinn, die sich laut darüber empörte, dass ich ihr zur nahe kam. Sie zeterte und schimpfte („Kría“) und dabei fiel ihr der Sandaal aus dem Schnabel, den sie mir wie eine Trophäe präsentiert hatte. Noch bevor er wieder im Meer versank, hatte sie ihn mit einem halsbrecherischen Sturzflug eingeholt – als ob sie mir beweisen wollte, dass die Schwerkraft für sie nicht existiert.

 

Infos

Fähre nach Island: https://www.smyrilline.de

Reiterhof Lýtingsstaðir von Evelyn Kühne: https://lythorse.is

Island-Spezialist Natur Pur Reisen, Freiburg: https://www.natur-pur-reisen.de

Geothermaler Strand, Reykjavík: https://nautholsvik.is/en/

Sicherheitshinweise Island allgemein: https://safetravel.is

Hinweise zum richtigen Verhalten am Vulkan: https://safetravel.is/eruption-in-reykjanes

Olaf Krüger auf instagram: https://www.instagram.com/olafkruegerphotography/

 

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